Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Chan Khuo den Polizisten, der das Gebäude verließ, nur als eines von vielen Insekten wahr, die dort unten in der Gosse herumwimmelten. Sich auf seinen Stock stützend drehte er sich um. Seine hübsche Spionin Lin Liu Lang saß aufreizend in einem der schweren Ledersessel. Seine Schweinsaugen krabbelten ihre schlanken Beine hinauf bis zu der Stelle, wo sie unter dem kurzen Rock verschwanden. Es lag Jahre zurück, seit er das letzte Mal eine Frau berührt hatte. Die gefräßige Krankheit erlaubte ihm nur die fade Erinnerung an vergangene Genüsse. Aber bald. Bald würde er ihn in den Händen halten. Und er würde ihn dorthin führen, wo wartete, was er seit langem suchte. Grenzenlose Macht versprach er. Und grenzenloses Leben. Eines, in dem er solche Huren wie Lin im Dutzend verspeisen konnte.
„Chu-Po“, murmelte Meister Sen respektvoll. „Dieser Engländer verfügt über außerordentliche Fähigkeiten.“
Der Weise untersuchte die Notizen, die Lin mitgebracht hatte.
„Und mit dem Buch der Wandlungen scheint er sich auch auszukennen“, fügte er hinzu. „Wirklich außerordentlich.“
„Ist er eine Gefahr?“, raunzte Chan. In der Frage verrauchte noch ein letzter Zorn darüber, dass der Engländer erneut entkommen konnte.
„Nein. Die Information, die er hat, ist nutzlos. Auch diese beiden Stücke würden ihm nichts verraten. Ebenso wenig wie uns.“
Missmutig presste Chan nur einen Laut hervor. Seine Geduld mit dem Engländer stieß an ihre Grenze. Der Lautlose würde ihm das verdiente Ende bringen. Dann schlurfte er zum Tisch, stellte sich neben Lins Sessel und berührte ihren Nacken. Seine gelbe, fleckig faltige Hand lag auf der makellosen Haut wie ein totes Tier. Sie ekelte sich vor ihm, das wusste er.
„Hier kann es ungemütlich w erden für dich, mein Püppchen.“
Chan versuchte, zutraulich zu klingen, krächzte aber wie ein alter Rabe. „Du gehst für eine Weile nach Manila.“
„Ihr sagtet Hongkong. Manila ist eine Kloake.“
Kräftig drückte er seine Klaue in ihrem Nacken zusammen, bis es beiden schmerzte.
„Manila! Heute noch. Tan Pai hat alles arrangiert.“
Ja, Manila, mein Täubchen, dachte Chan. Sie musste den Weißen ja unbedingt noch zwischen ihre saftigen Schenkel zwängen. Und deshalb Manila.
Artig wie ein kleines Mädchen dankte Lin Liu Lang, stand auf, verneigte sich höflich und ging lustvolleren Tagen entgegen.
Du kannst mich mal, alter Wichser, dachte sie. Wenn sie ihr Honorar überreicht bekam, konnte sie machen, was sie wollte. Bis dahin blieb sie eben sein Püppchen.
Auf leisen Sohlen, sich verneigend, kam Tan Pai herein. Er überreichte den Umschlag mit beiden Händen.
„Das dritte Stück, Herr.“
Ebenso leise verschwand er wieder, klug genug, eines zu wissen. In dieser Angelegenheit war es besser, nichts zu wissen.
Von allen, d enen Leonard bis jetzt begegnet war, konnte er Runciman als einzigem vertrauen. Ein Grund, dessen Warnung ernst zu nehmen. Stattdessen hatte er es vermieden, der Besatzung des eintreffenden Streifenwagens in die Arme zu laufen und sich auf direktem Weg nach Kampong Glam begeben.
Ohne weitere Informationen würde seine Suche ins Leere laufen. Planlos irrte er durch die Straßen und zählte mittlerweile fünf gelb gestrichene Häuser. Beim letzten fand er sich vor dem Schaufenster eines Barbiers wieder. Er betrachtete kurz sein Spiegelbild. Wurde langsam Zeit. Seine Bartstoppeln nahmen inzwischen eine unappetitliche Länge an. Die hinterhältige Leiterin einer Rechtsabteilung, ein Scharfschütze und zum Schluss noch die Polizei hatten verhindert, dass er sich am Morgen rasieren konnte.
Der Barbier, ein alter Malaie, döste auf einer Bank und Leonard schwang die Eingangstür mehrmals vor und zurück, um den Schlafenden mit dem Gebimmel der Glocke zu wecken. Hurtig sprang der Malaie sprang und begrüßte ihn. Um seinen Wunsch zu verdeutlichen, fuhr sich Leonard über den Bart.
„Ya, ya, buka “, antwortete der Barbier. „Ist offen.“
Er lud Leonard mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Seinen Schlaf schüttelte er erstaunlich rasch ab und begann eilfertig mit der Arbeit. Er drapierte eine Papierkrause um Leonards Hals und schlang ein Tuch über seine Brust. Die Frage, ob das für eine Rasur nötig sei, ignorierte der Mann. Stattdessen zupfte er an Leonards Haaren herum und kräuselte die Lippen, sichtbar unzufrieden. Dann griff er eine Schere und fing munter an zu schnippeln. Seine feingliederigen Finger fuhren dabei
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