Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
plötzlich staubtrocken.
„Lange her. Eine junge Frau, kam von weit weg. Hat gearbeitet in der Nähe. Medizin verkaufen bei einem alten Chinesen. Hat sich verliebt in einen orang putih , weißer Mann. So wie du. Er kauft Haus und sie leben darin. Eines Tages, sie geht mit ihm fort. Niemand weiß, wohin. Bald darauf, sie kommt wieder, allein. Orang putih kommt nicht. Sie wartet ein Jahr, zwei Jahre. Er bleibt verschwunden. Lange sie weint. Dann sie geht hinein. Schließt alle Fenster und Türen. Nie mehr rausgekommen. Unheimliche Geräusche nächtelang, Klopfen und Jammern, das leiser wird. Dann still für immer. Niemand hat sie je wieder gesehen. Aber manchmal, nachts, man sieht Licht und eine alte Hexe, die herumschleicht im verschlossenen Haus. Sehr böser Geist. Leute sagen, schon drei hineingehen und nie wieder rauskommen. Sie ist noch drin und frisst deine Seele.“
Er schloss seine Erzählung mit einem kurzen Gemurmel, ein Stoßgebet oder eine Beschwörung.
Es war ihr Haus! Wenn dieses Schauermärchen auf eine völlig wahnsinnige Weise der Wahrheit entsprach, oder wenn man wahnsinnig genug war, es als Wahrheit anzunehmen, dann hatte die Alte in der Apotheke dieses Haus als ihr Grab bezeichnet. In Leonard regte sich Widerstand gegen das Undenkbare.
„Kein Geist! Ich habe sie gesehen. In der alten Apotheke in der Kitchener Road.“
„Ya, ya, Kitchener Road“, bestätigte der Malaie. „Aber du unmöglich gesehen. Schon fast hundert Jahre her.“
Ein Geist sollte ihn hierher gelockt haben? Ausgeschlossen, rief seine Vernunft. Es stach in seinem Kopf. Der Schmerz flammte auf, hell und kurz wie ein Zündholz, das gleich darauf wieder verlöschte. Wie eine weitere Botschaft. Komm näher.
Es kam von da drinnen!
„Warum heißt es das Gelbe Haus?“
„Oh, junge Frau sehr verliebt. Kaufte Blumen aus ihrer Heimat. Ganze Haus voller Blumen. Überall gelb. Längst tot jetzt wie alles.“
Traurigkeit sickerte Leonard ins Herz. Er wollte gehen.
„Du nicht fotografieren?“
Leonard reagierte mit Unverständnis.
„Für Buch über Singapur.“
Erst der Anflug von Misstrauen im Gesicht des Malaien mahnte ihn, seine Lüge aufrecht zu erhalten.
„Später“, beeilte er sich zu sagen. „Ich komme wieder. Wenn es dunkel ist, sieht es sicher eindrucksvoller aus.“
„Nicht im Dunkeln. Nicht heute. Heute Vollmond.“
Am Hemdärmel zog ihn der Malaie aus der Gasse.
„Das hier mal gewesen jalan dilarang . Verbotene Straße. Schreckliche Dinge sind geschehen im Dunkeln. Vielleicht immer noch. Besser anderes mal kommen.“
Dilarang.
Fehlte ihm noch der letzte Beweis, so lieferte ihn dieses Wort.
Der Mond, fett und gelb im Süden aufsteigend, lugte in Inspector Sungs Amtszimmer. Er saß im Dunkeln. Mit einer ungewöhnlichen Intensität fiel das Licht als Streifen über den Schreibtisch und traf direkt auf seinen persönlichen Höllenkreis des Todes. Keiner seiner bisherigen Fälle warf derart viele Spuren auf. Keine zwei davon wiesen in die gleiche Richtung. Nur der Engländer nahm darin die Stellung eines alles verbindenden Elementes ein. Mit einer schlappen Handbewegung warf er ein Aussageprotokoll auf den Tisch. Wertlos. Ajay Amang, Hausangestellte bei Dallin Runciman, sieh an, sieh an, aber wieder ein Glied, das sich mit keinem anderen in der Kette verband. Sie gab an, von dem obskuren Mönch überredet worden zu sein, im Haus des Reeders herumzuschnüffeln. Kannte den Mann nur flüchtig, dachte sich nichts dabei, bezeichnete sich als unschuldig, und so weiter. Sicher die Harmloseste in dem ganzen Haufen. Selbst wenn sie Belastenderes vorzutragen gehabt hätte.
„Einfach sinnlos“, seufzte Sung.
Sein Detective hatte den angeblichen Mönch entwischen lassen. Sagte, er hätte ihn weich machen wollen, indem er ihm die Erschießung androhte bei einem fingierten Fluchtversuch. Schwor, den Kerl wieder einzufangen. Aber Sung musste sich beim Superintendant den Mund fusselig reden, damit die Sache für seinen Detective keine üblen Konsequenzen nach sich zog. Ratlos suchte er eine Ablenkung. Vor seinem Fenster stieg der Mond dem höchsten Tower an der Marina Bay aufs Dach. Ein Flugzeug, mit blinkenden Tragflächensignalen, die Nase in den Nachthimmel gereckt, kreuzte sein Sichtfeld.
Dann eben Manila, dachte Lin Liu. Dröhnend stieg die Boeing 747 der Singapore Airlines höher. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte sie durch ein Fenster den Mond erkennen, kreisrund, leuchtend hell. Unter ihr Millionen
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