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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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Schmerzen vergessen. Noch heute würde er seinem Gott, Wong Tai Sin, dem Großen Unsterblichen , ein Dankopfer darbringen, das alles bisherige in den Schatten stellen sollte. Sein eigenes Blut, sein eigenes Fleisch. Herausgepresst, herausgeschnitten mit mata hitam, dem Auge der Dunkelheit.
Er griff die drei Palmblattstückchen, an denen das Blut so vieler anderer klebte, und schlurfte hinüber an den Ahnenaltar. Dort warf er sie in ein goldenes Schälchen und entzündete sie. Knisternd lösten sie sich auf in Rauch und Asche.
Als Meister Sen die Notizen zusammenraffte, wurde sein Fieber plötzlich ausgelöscht. Er entsann sich der Sorge, die sich ihm einpflanzte, als sein Herr ihm die ersten Hinweise auf die Existenz jenes magischen Dolches gezeigt hatte. Soeben hatte er ein Detail unterschlagen. Es hing mit der Jahreszahl zusammen. 1890. Damals durchzog Singapur ein Gewirr schmaler Gassen und Stichstraßen, viele nur Trampelpfade, namenlos. Später verschwanden sie oder entwickelten sich, wurden gepflastert, bebaut, benannt und in Register aufgenommen, in Stadtpläne. Warum also erwähnte die Botschaft nicht den Namen der Straße? Der Grund, den er dahinter zu entdecken glaubte, erschreckte ihn. Die ganze, verschlüsselte Nachricht klang, als sei sie für jemanden bestimmt, der in diesen alten Tagen nach dem Haus suchte. Als viele Orte nicht durch tote Buchstaben und Zahlen bezeichnet wurden. Sondern im Gedächtnis der Menschen verankert waren durch Ereignisse, die sich mit ihnen verbanden. Als man sich noch nach dem Haus des weißen Mannes erkundigte oder jenem, in dem Suanh Sajang gestorben war. Vor allem aber, als man eine namenlose Gasse nur finden konnte, wenn ihr eine ganz bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wurde. In diesem Fall eine düstere, nur geflüsterte. Jalan dilarang. Die Verbotene Straße. Der Schluss, den der Weise daraus ziehen musste, vergrößerte seine Sorge beträchtlich. Die Botschaft kam aus der Vergangenheit! Wenn das zutraf, dann wartete am Ziel eine ganz andere Macht, als die, die sein Herr zu finden hoffte. Eine viel gefährlichere.
    Gerade die dramatische Reaktion des Barbiers überzeugte Leonard, dicht am Ziel zu sein. Mehr, als hätte dieser ihm eine konkrete Adresse gegeben. Es erfüllte ihn mit der Angst, sich in Absurditäten zu verlieren. Trotzdem drängte er auf eine Erklärung. Der Barbier schnitt das Thema jedoch ab, mit bestimmender Geste und strengem Gesichtsausdruck. Ohne Übergang verwickelte er Leonard in eine unverfängliche Konversation. Plappernd stutzte er das Haar zu einer akkuraten Frisur und rasierte ihn auf altmodische Art mit einem Klappmesser. Zum Schluss betupfte er das Gesicht mit duftendem Wasser und kassierte eine Summe, die in London kaum als Trinkgeld gereicht hätte. Erst dann ging er auf Leonards Frage ein.
„Warum wollen Sie wissen rumah kuning ?“
„Ich schreibe ein Buch“, antwortete Leonard. „Über das alte Singapur. Und darin soll es auch ein Kapitel geben über eher ungewöhnliche Dinge.“
Er hielt es für ratsam, den harmlosen Spinner zu geben. Aber es erstaunte ihn, wie schnell er inzwischen Lügen zur Hand hatte. Diese erfüllte ihren Zweck.
„Ah, interessant. Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen.“
Der Mann lenkte ihre Schritte zu einer nahen Gasse, eine der heruntergekommenen. Vorbei an den schmucklosen Fassaden geduckter Häuser tauchten sie in das Halbdunkel. Nur Geräusche verrieten die Anwesenheit von Menschen. Topfgeklapper, leise Stimmen, ein Radio, alles hinter verschlossenen Läden. Vor einem Häuschen blieb der Malaie stehen. Im Gegensatz zu den anderen stand es allein, von den Nachbarn zu beiden Seiten durch schmale Streifen verdorrter Sträucher getrennt. Eine schwarze Substanz überzog den rauhen Putz, Tür und Fensterläden verrammelt, ein Teil des Daches eingestürzt. Drei Holzbalken stützten eine Außenwand, die sich bedrohlich zur Seite neigte. Eine amtliche Notiz klebte an der Tür. Das Haus sollte in Kürze abgerissen werden. Zutritt verboten. Einsturzgefahr. An keiner Stelle zeigte die Bruchbude gelbe Farbe. Trotzdem wies der Barbier mit einer Bewegung seines Kopfes darauf und flüsterte.
„Rumah kuning. Schon lange leer. Niemand will wohnen. Böser Geist darin.“
Leonard fühlte sich hierher gezogen. Als wollte das Haus ihn drängen, das hier verborgene Geheimnis an sich zu nehmen, bevor es für immer verschüttet wurde.
„Wer hat dort zuletzt gewohnt?“ Er musste sich anstrengen zu sprechen. Sein Mund war

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