Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
entronnen. Der Bursche, Min Naing mit Namen, pflegte einen fatalen Hang, es in allem seinem Herrn gleichzutun, ja geradewegs wie ein Engländer zu wirken. So sehr verfiel er dem Charisma des Captain, daß er sogar dessen Haß auf die einheimische Bevölkerung übernahm. Conley hatte diesen Burschen in sein Herz geschlossen. Ihn behandelte er mit ungewöhnlicher Milde, wo er sonst für die Burmesen nur einen Stiefeltritt übrig hatte. Min Naing führte zwei Besucher auf die Veranda, einen alten Mönch und einen Einheimischen, dessen Kleidung auf eine höhere Stellung hinwies. Sie wünschten den Captain in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. In der Nähe von Henzada seien vier Gefolgsleute des Mönches getötet worden und dabei sei ein wertvolles Instrument verloren gegangen. Sie boten eine erhebliche Summe in Gold für die Wiederbeschaffung des Gegenstandes. Mit keinem Wort verrieten sie etwas über die Natur und Beschaffenheit jenes Instrumentes. Aber sie sprachen in einer Weise, als seien sie sicher, der Captain wisse, wovon die Rede sei. Ich meinte, im Gesicht Conleys abzulesen, dass er die beiden am liebsten mit der Reitgerte von der Veranda geprügelt hätte. Aber er wahrte die Fassung und sagte, er könne in dieser Sache nicht weiter behilflich sein. Der Inhalt des Gespräches erregte in mir einen dumpfen Verdacht. Umso mehr, als dieser in einem unvermuteten Bezug zu der Unruhe stand, die jene Zeichnung in mir ausgelöst hatte. Den Grund dafür fand ich erst am nächsten Tag heraus.
Kapitel 22
Es brauchte mehrere Anläufe, bis Leonard einen Taxifahrer traf, der ausreichend Englisch verstand. Ein junger Mann, gekleidet in ein gelblich verfärbtes Hemd und dem longyi, ein knielanges Wickeltuch. Um die Hüften geschlungen ersetzte es die Hose. Der Fahrer lehnte an seinem asthmatischen Gefährt, dessen ursprüngliches Aussehen unter zahlreichen Flickereien verschwand. Leonard nannte die Adresse, die er sich in der Bibliothek notiert hatte. Dann wehrte er freundlich die üblichen Geschäfte ab, die ihm jeder, den er ansprach, aufdrängte. Stadtrundfahrt, wenig Dollar. Geld tauschen, guter Kurs. Seine Gedanken kreisten um das, was vor ihm lag. Im Gegensatz dazu mochte der Diebstahl in der Bibliothek verzeihlich sein, geradezu unbedeutend. Er würde Conleys Grab öffnen müssen. Die Friedhöfe Londons kamen ihm in den Sinn. Brompton mit seinen lichtdurchfluteten Gräberreihen und die düsteren Mausoleen von Highgate. Er glaubte nicht, hier Ähnliches anzutreffen. Aber das, was sie am Ende der Fahrt vorfanden, überstieg seine kühnsten Erwartungen.
O berhalb des linken Ohres setzte er das Rasiermesser an und trennte die knorpelige Muschel mit einem einzigen Schnitt von der Schläfe. Mit einer bedächtigen Bewegung legte er die Klinge auf den Tisch. Dann wickelte Lo Han, die starke Blutung ignorierend, sein abgeschnittenes Ohr in ein Baumwolltuch und verstaute es in einem Holzkästchen. Lautlos schob er es über die glatte Fläche des Tisches. Voller Groll nahm es Chan Khuo entgegen.
„Vielleicht finden meine Worte den Weg jetzt leichter in dein Spatzenhirn.“
Lo Han hatte versagt, erbärmlich versagt. Tiefe Scham empfand er darüber, seinen Auftraggeber lächerlich zu machen, indem er den Falschen getötet hatte. Mit seiner Selbstverstümmelung erwirkte er die Gnade einer zweiten Chance. Und sie wurde ihm nur gewährt, weil er bisher noch nie versagt hatte. Jeden anderen hätte Chan Khuo persönlich in Stücke geschnitten und den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Diese zweite Chance würde zugleich seine letzte sein. Keinen Moment zweifelte Lo Han daran, den Fehler wieder ausbügeln zu können. Und der Engländer würde bitter bezahlen für diese Schande.
„Unser Spitzel beim Crime Department sagt, Finney sei aller Wahrscheinlichkeit nach Burma gereist, mein Herr“, sagte Tan Pai.
„Und sagt dieser dreckige Köter von einem Spitzel vielleicht auch, wieso ihm das überhaupt gelungen ist?“, spie Chan Khuo aus.
Die Worte erzielten eine ähnliche Wirkung wie der Gehstock. Wimmernd krümmte sich Tan Pai.
„Er benutzt wohl gefälschte Papiere, Herr.“
„Tut er das?“, sagte Chan Khuo grinsend.
Seine Stimmung wechselte rasch wie die Farbe eines Chamäleons. Finney konnte nur in Rangun einreisen, der einzige offizielle Weg nach Burma. Vermutlich hielt er sich noch dort auf. Seine Zeit war knapp bemessen, seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Chan konnte hin, wo immer er wollte, bleiben, solange es
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