Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Dorfbevölkerung zu exekutieren. Darunter auch sechs Knaben, keiner älter als zwölf Jahre alt. Eine wehrlose Frau, die die Kinder schützen wollte, soll Conley dabei mit seinem Säbel aufgespießt haben. Diese Schauermärchen schien der Lieutnant jedoch aus der schieren Lust zu verbreiten, andere zu erschrecken. Im ruhigen Wesen des Captain konnte ich keinerlei Anzeichen für eine derart monströse Brutalität entdecken. Unsere Begegnung indes war zu meiner Verwunderung kein Zufall. Er hatte sich nach mir erkundigt. Und was er mir zeigte, versetzte mich in allerhöchstes Erstaunen.
Kapitel 20
Februar 1988, Rangun, Burma
Das kleine Mädchen lachte . Es tauchte unvermittelt aus dem trägen Fluss der Passanten in der Merchant Road auf und versperrte Leonard den Weg. Er beugte sich zu ihm hinunter, suchte in dem zierlichen Gesicht seine Absicht zu erraten. Im gleichen Moment huschte ein Schatten darüber wie der eines Raubvogels und löschte ihr Lachen aus. Etwas sauste dicht über ihre Köpfe hinweg, fetzte mit Wucht die Sonnenplane eines Getränkestandes fort und landete dumpf polternd auf dem Pflaster. Das Kreischen, das diesem todbringenden Schatten vorausging, ihn auslöste, nahm Leonard in einer unerklärlichen Verzerrung des Zeitempfindens erst anschließend wahr. Ungläubig starrte er auf das Ding, ein zwei Meter langes Kantholz, dick wie sein Oberschenkel.
Sekunden zuvor war der Fahrer eines alten Pick-up abgelenkt von dem Fremden, der da auf dem Bürgersteig stand und auf das Mädchen herunterblickte. Und übersah um ein Haar den Köter auf der Fahrbahn. Er führte eine Vollbremsung aus, die das Kantholz auf der Ladefläche in ein tödliches Geschoss verwandelte.
Der armselige Hund stand noch dort, triefend, Zentimeter von dem zischenden Kühlergrill des Pick-up entfernt. Aber das Kind war verschwunden. Hatte es ihn gerettet? Oder durch sein neckisches Spielchen, den Weg zu blockieren, die tödliche Gefahr erst für ihn heraufbeschworen? Leben und Tod trennte nur die fadendünne Linie einer einzigen Sekunde. Nur ein kurzer Moment des Zögerns, und der massive Holzbalken hätte sein Rückgrat in Stücke geschlagen. Mit dem Mädchen floh auch Leonards anfängliches Gefühl der Sicherheit. Eine Zuversicht, die ihn erfüllte, als er, Hunderte von Meilen zwischen sich und seine Verfolger bringend, in dieser vergessenen Stadt ankam.
Die Sonne hatte alles mit einem zauberhaften Glanz erhellt. Die gleic he Sonne, die auch auf Singapur herunterbrannte. Doch Rangun erstrahlte in ihrem Licht wärmer als die zerklüftete Metropole mit ihren engen, überschatteten Häuserschluchten. Hier verwandelte ihr Licht das Wasser eines still fließenden Seitenarmes des Irrawaddy in ein Band aus glitzernder Bronze. Es streute sich in den golden glänzenden Kuppeln der Pagoden, fing sich in den orange leuchtenden Roben zahlloser Mönche, die sich der Lehre des Buddha verschrieben. Dasselbe Licht verlieh der Stadt gleichzeitig einen melancholischen Schimmer. Obwohl es die Hauptstadt des Landes war, wirkte Rangun, als sei es jahrzehntelang verlassen gewesen. Als hätten die Bewohner die Stadt erst kürzlich wiederentdeckt, um sie mit neuem Leben dem vollständigen Vergessen zu entreißen. In der Innenstadt zählte kaum ein Gebäude mehr als sechs Stockwerke. Selbst die moderneren zeigten starke Spuren der Verwitterung. Durch Straßen und Gassen ruckelte spärlicher Verkehr, der kaum dem einer europäischen Kleinstadt entsprach. Rostige Pick-ups, umgebaute Militärfahrzeuge und Vehikel, aus mehreren anderen Maschinen zusammengeschweißt, teilten sich friedfertig den reichlich zur Verfügung stehenden Raum. Ohne das für andere Großstädte übliche Gedrängel und Geschiebe konkurrierten sie untereinander eher mit ihrer Langsamkeit. Den größeren Teil des Verkehrs bildeten Rikschas, Handkarren und Fahrräder, bepackt wie Karawanenkamele. In den Läden entdeckte Leonard nirgends Luxusgüter oder Importwaren. Sämtliche Gebrauchsgegenstände stellte man anscheinend aus Dingen her, die vorher anderen Zwecken dienten. Eine Bar oder ein Café suchte er vergebens. Im Kontrast zu dem Mangel an allem, was er für selbstverständlich hielt, strahlten die Menschen eine widerspruchslose Heiterkeit aus. Sein Hotel, das Imperial, fügte sich ein in diese Mischung aus Zerfall, Improvisation und einer Fröhlichkeit, mit der alles in warme Farben getaucht wurde.
Sich all dessen vergegenwärtigend kam es Leonard absurd vor, ausgerechnet in einer
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