Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
entlang und entfernte sich. Leonard öffnete den Karton. Ungeordnet enthielt er eine Sammlung Dokumente, versehen mit einer kringeligen Signatur, manchmal auch einem englischsprachigen Hinweis, die Namen unterschiedlicher Regimenter. In dem Stapel fand Leonard sechs Dokumente, die Conleys Einheit vermerkten. Eine enthielt die Mitteilung, die 2. South Wales Borderers hätten bereits im Jahr 1887 wieder ihr Quartier in Minhla südlich von Mandalay bezogen. Unter der Liste der kommandierenden Offiziere wurde Conley nicht aufgeführt. Sein Name tauchte in zwei anderen Papieren auf. Das erste, die Abschrift eines längst verlorenen Originals, trug als Datum den 28. März 1888. Verfasst von einem Major Johnston Paisley und gerichtet an General A. E. Leith, Commander der Upper Burma Field Force. Darin drückte der Major sein Bedauern aus über den unerwarteten Tod von Captain Conley. Noch Ende Februar hat es Nachricht von Lieutnant Endicott gegeben, die davon sprach, in welch phantastischer Manier Conley durch dichtes Feuer auf den Feind marschiert, ohne daß ihn eine Kugel der Rebellen auch nur streife. Überhaupt nimmt es Wunder, wie er in all seinen Dienstjahren nicht den geringsten Kratzer davongetragen hat. Umso tragischer, da uns nun die Meldung erreicht, er sei im Feld gefallen. Da von dem Rebellen Bo Sai keinerlei Nachricht mehr zu uns durchdringt, können wir den ihn betreffenden Auftrag wohl als erledigt betrachten.
Das zweite Dokument, ebenfalls eine Abschrift, verstörte durch seine brutale Knappheit.
Blackford Conley, Captain der 2 nd South Wales Borderers, am 17. März 1888 in der Nähe von Than Mon in einen Hinterhalt geraten und während des folgenden Feuergefechts getötet.
Aufgegeben wurde diese Nachricht eine Woche nach dem Vorfall von einem Feldgeistlichen, Reverend Elijah Willet. Das Ergebnis ernüchterte Leonard. Es bestätigte zwar seinen Verdacht, Conley hätte hier in Burma seinen Tod gefunden, aber sonst enthielt der Kasten nur einen vagen Hinweis auf den Standort des Grabes. Britische Offiziere, die an Krankheit starben oder im Kampf fielen, begrub man auf einem für Europäer reservierten Friedhof in Rangun. Er notierte sich die Lage. Lag er dort? Zusammen mit seinem Schatz, wie er es bestimmt hatte? Im angrenzenden Gang scharrte der Bibliothekar in irgendeinem Regal herum.
„Hier ist nichts weiter“, klang dessen dünne Stimme herüber. „Konnten Sie etwas finden?“
Leonard blieb stumm. Die Stimme meldete sich. Die Stimme, die ihn seit seiner Kindheit quälte. Die versiegte, als seine Eltern die Heimat verließen auf einem 16-Meter-Boot, mit dem sie den Ozeanen trotzen wollten. Und die wiederkehrte in ihrem Telegramm. Und diese Stimme sagte: Nein!
Schrie es.
Rasch steckte er beide Dokumente in die Tasche.
„Nein!“, antwortete er laut. Lauter als nötig.
Mit Dank verabschiedete er sich von dem hilfreichen Bibliothekar. Er fiel zu überschwenglich aus. Das schlechte Gewissen eines Diebes. Notdürftig kaschierte er es mit seiner Zwangslage. Alle, die dem Auge der Dunkelheit hinterherjagten, würden auch weiterhin jeder Spur folgen. Leonard musste sie verwischen, noch den kleinsten Hinweis vor ihnen verbergen. Im nächsten Moment verätzte ihm ein anderer Gedanke das wenige, das er bis jetzt entdeckt hatte. Selbst wenn er das Grab, den Dolch finden würde. Conley hatte das Auge der Dunkelheit besessen. Zu welchem Geheimnis der Dolch auch immer führte, hatte der Offizier vor 100 Jahren es nicht längst entdeckt? War es längst unwiederbringlich dahin?
Kapitel 21
Aufzeichnungen des Reverend Elijah Willet, 15. März 1888
Dergleichen hatte ich noch nie gesehen. Ich muss vorausschicken, dass mich meine Tätigkeit als Missionar und Feldgeistlicher um die halbe Welt geführt hat, durch Indien, China, die südöstlichen Besitzungen des Empire. Dabei nutzte ich, fasziniert von diesen Kulturen, die Gelegenheit, die Mythen und Legenden der Völker zu sammeln. Wohl auch der Grund, warum Captain Conley auf der Suche nach einer fundierten Meinung zu mir kam. Er besaß die Zeichnung eines rituellen Dolches, die er, so sagte er mir, bei einem Straßenhändler in Rangoon erstanden hätte. Die äußerst detaillierte Zeichnung zog mich in den Bann und erzeugte in mir eine Unruhe, ohne zunächst sagen zu können, woran das lag. Diese Unruhe vergrößerte sich beträchtlich, als ich am folgenden Abend bei Captain Conley zu Gast war. In seinen Diensten stand ein junger Burmese, kaum dem Knabenalter
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