Das Auge der Fatima
Dienst am Hof des Emirs von Gazna am Herzen liegt.«
Beatrice schluckte. Diese Worte klangen beinahe bedrohlieh, so als würde er eigentlich meinen: Wenn Euch Euer Leben lieb ist.
»Ihr seid Arzt, Saddin al-Assim. Ihr werdet Euch also hauptsächlich um die Gebrechen und Leiden der Höflinge kümmern. Der Tag beginnt selbstverständlich bei Sonnenaufgang mit dem Morgengebet. Nach dem Frühstück werden Euch die Kranken in Eurem Arbeitszimmer aufsuchen. Ich nehme an, dass es Euch noch heute zugewiesen wird. Da alle hier bei Hofe ihr Leben in den Dienst Allahs gestellt haben und einen Ihm gefälligen Lebenswandel führen, werdet Ihr feststellen, dass es hier weniger für Euch zu tun gibt als in Häusern anderer Herrscher. Der Emir duldet keine ausschweifenden Feste, keine Musik, keinen Tanz, keine Völlerei oder anderweitiges zügelloses Gebaren. Berauschende Getränke, Wasserpfeifen, Opium und Ähnliches sind ohnehin bei schweren Strafen verboten. Mahmud ibn Subuktakin ist ein heiliger Mann. Er folgt den Worten des Korans. Mäßigung ist eines der obersten Gebote in dieser Stadt. Ihr werdet es also kaum mit verdorbenen Mägen oder Kopfschmerzen zu tun bekommen und somit sehr viel Zeit haben, Euch Euren Studien zu widmen. Zu diesem Zweck steht Euch die Bibliothek jederzeit zur Verfügung. Außerdem treffen sich dort jeden Tag nach dem Mittagsgebet alle Gelehrten. Wir nehmen unser Mittagsmahl ein und sprechen über die Ergebnisse unserer Studien, fragen die anderen Gelehrten um Rat, damit Allah unsere Gedanken erleuchten möge, falls uns die Lösung eines Problems verschlossen bleibt.« Hatte Beatrice sich getäuscht, oder schwang tatsächlich eine Spur von Ironie in Abu Rayhans Stimme mit? »Abends nehmen wir dann alle am gemeinsamen Abendessen mit dem Emir und dem ganzen Hofstaat teil. Und nach dem Nachtgebet endet der Tag. Das ist der Tagesablauf an jedem Tag in der Woche. Für Euch gibt es nur eine Ausnahme. Am heiligen Freitag gewährt der edle Subuktakin dem Volk von Gazna die Gunst, das ganze Ausmaß seiner Güte und Großzügigkeit zu erleben.« Wieder hatte Beatrice den Eindruck, dass Abu Rayhan seine Worte nicht wirklich ernst meinte. Doch ungerührt und ohne eine Miene zu verziehen, fuhr er fort. »Die Leibärzte des Emirs gehen in die unterschiedlichen Viertel der Stadt, um dort die Kranken unentgeltlich zu behandeln. An diesem Tag steht es Euch frei, an dem Gespräch der Gelehrten teilzunehmen oder nicht. Es liegt an Euch, wie viel Zeit Ihr inmitten des gemeinen Volkes verbringen wollt. Allerdings legt der Emir sehr viel Wert darauf, dass alle Höflinge - also auch die Ärzte - beim Freitagsgebet in der Moschee anwesend sind.« Abu Rayhan machte eine kurze Pause. »Habt ihr alles verstanden?«
Beatrice nickte. »Ja.«
»Wenn Ihr diese Regeln befolgt und Euch keiner Gotteslästerung oder einer ähnlich abscheulichen Schandtat schuldig macht, so erwartet Euch ein angenehmes, sorgloses Leben in Gazna.«
»Und wenn nicht?« Beatrice war selbst überrascht, dass sie sich traute, offen danach zu fragen.
Abu Rayhan nahm einen langen Schluck aus seinem Becher und sah Beatrice an. Vermutlich dachte er in diesem Augenblick darüber nach, wie er seine Antwort formulieren sollte, ohne sich der Gefahr auszusetzen, eines Tages über die eigenen Worte zu stolpern.
»Mahmud ibn Subuktakin, unser edler Herrscher und Beschützer der Gläubigen von Gazna, hat sehr viel Geduld. Er hört seine Untergebenen an, wenn sie ihm voller Sorge über die Verfehlungen anderer berichten. Und wie ein liebender Vater versucht er jene Männer, die sich den Ratschlägen und Geboten des Korans widersetzen, auf den richtigen Weg zurückzuführen. Wem es gelingt, durch seine Aufmerksamkeit und Mithilfe die Seele eines dieser Unglücklichen zu retten, wird - verständlicherweise - reich belohnt. Nur die Unverbesserlichen, denen nicht mehr geholfen werden kann, weil ihr Herz und ihr Verstand bereits dem Teufel gehören, werden bestraft - so, wie der Koran es verlangt. Doch selbst ihnen gewährt unser Herrscher in seiner über alles gepriesenen Güte die Gelegenheit, ihre Sünden zu bereuen und ihre Seelen zu reinigen, damit sie mit geläuterten Herzen vor Allah treten und mit erhobenem Haupt um Einlass in das Paradies bitten können. Die Sorge um das Wohl der ihm anbefohlenen Seelen lässt unserem Herrscher keine Ruhe. Unermüdlich ist er auf der Jagd nach den Frevlern, die vom Teufel ausgesandt wurden, die Gläubigen in Versuchung zu
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