Das Auge der Fatima
einen Teller Linsen. »Pergament und Tinte liegen dort auf dem Tisch.«
Der Gefangene machte sich augenblicklich an die Arbeit. Hassan sah nicht zu, wie er sein gottloses Werk ausführte. Er wandte ihm den Rücken zu und hörte nur das emsige Kratzen der Feder, während er seinen Blick aus dem Fenster auf die verlassene Straße richtete und die Katzen auf ihrer Jagd nach Ratten und Mäusen beobachtete. Dabei betete er wie jedes
Mal, wenn er irgendwo zum Warten gezwungen war, um den glücklichen Ausgang seines Vorhabens. In dieser Nacht jedoch hatte er noch mehr Zeit für das Gebet als gewöhnlich. Die Sterne begannen bereits zu verblassen, als der Gefangene endlich die Feder zur Seite legte, aufstand und hinter ihn trat.
»Die Bilder sind fertig«, sagte er und reichte ihm einen Bogen Pergament.
Wahrhaftig. Vor Hassans staunenden Augen lag nicht weniger als viermal das Gesicht desselben Mannes. Die Bilder glichen einander bis zum letzten Barthaar. Und der Mann sah dabei so lebendig aus, dass er glaubte, jeden Augenblick würde sich der Mund bewegen und zu sprechen beginnen. Es war ein richtiger, echter Mensch mit jeder Falte seiner Haut, jedem einzelnen Haar seiner Augenbrauen, jeder Locke seines Bartes. Es fiel schwer zu glauben, dass er nicht aus Fleisch und Blut, sondern nur aus Tinte und Pergament bestand. Es war unheimlich, gespenstisch. Und doch ... Hassan kniff die Augen zusammen.
»Dies ist wohl das Bildnis eines Mannes«, sagte er nach einer Weile, »allerdings kann ich keine Ähnlichkeit mit ibn Sina feststellen.«
»Doch, doch, seht Euch nur einmal die Augen an, Herr«, ereiferte sich der Gefangene, und Hassan fiel auf, dass dieser ihn nicht mehr mit seinem Namen ansprach. Vielleicht hatte er endlich begriffen, dass sie einander nicht ebenbürtig waren - zu keiner Zeit. »Ihr müsst Folgendes bedenken, Herr: Seit Ihr ibn Sina in den Bergen getroffen habt, sind viele Jahre verstrichen. Ihr sucht nicht mehr den jungen Mann, den Ihr damals gesehen habt. Er ist ebenso älter geworden wie Ihr selbst, er muss sich folglich ebenso verändert haben. Deshalb habe ich versucht ihn altern zu lassen und ihn so darzustellen, wie er jetzt, mehr als zehn Jahre nach Eurer Begegnung mit ihm, aussehen könnte. Sonst würde ihn doch niemand erkennen.« Ein strahlendes kindliches Lächeln glitt über sein eingefallenes, schmutziges Gesicht. »Ich glaube nicht, dass al-Kazar ebenfalls daran gedacht hätte.«
»Du magst Recht haben«, sagte Hassan und musterte die Bilder erneut. Ja, wirklich, bei längerer Betrachtung waren die Augen tatsächlich ibn Sinas Augen. Und das Kinn, unter einem dichten, krausen, bereits ergrauten Bart versteckt, war das von ibn Sina - soweit er sich nach all den Jahren noch erinnern konnte. Er nickte.
»Gut. Bereits in wenigen Stunden werden Reiter mit dem Bildnis in alle vier Himmelsrichtungen unterwegs sein.«
Er war zufrieden. Mit diesem Porträt in den Händen dürfte es keine Schwierigkeiten mehr bereiten, ibn Sina zu finden - diesen Dämon, der sich, wie es schien, unsichtbar machen und überall verstecken konnte, obwohl ihm schon seit einigen Jahren die Fidawi auf den Fersen waren.
»Ich möchte jetzt meinen Lohn, Hassan.«
Hassan sah auf. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Der Gefangene klang merkwürdig, kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er sah aus wie jemand, der im Fieber lag oder große Angst hatte. Und dann sein Blick ...
Vielleicht ist es die Gier in den Augen eines Mannes, die Erwartung auf die vergänglichen Freuden des Fleisches, dachte Hassan und schob seine Bedenken beiseite.
»Ja, du sollst deinen Lohn bekommen«, sagte er und lächelte. Endlich war es so weit. Endlich konnte er das tun, was er beinahe, in einem Augenblick der Schwäche schon vorhin getan hätte. Er griff nach seinem Säbel.
Doch in eben diesem Moment, kurz vor Vollendung seiner Mission, stürmten zwei Männer in den Raum. Sie waren gekleidet wie die Stadtwachen, trugen Helme, breite, plumpe Schwerter, Schilde und die schweren, eisenbeschlagenen Stiefel der Soldaten. Natürlich hatte er mit ihnen gerechnet. Doch sie kamen zu früh. Verärgert ließ Hassan seine Hände wieder sinken und den Säbel in der Scheide stecken. Erneut musste er sich in Geduld üben. Doch hielt nicht Allah Seine gütige, schützende Hand über ihn? Würde Allah ihn, Seinen treuen Diener, jemals im Stich lassen? Nein. Alles kam von Allah. Vielleicht war dies eine Prüfung. Oder
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