Das Auge der Fatima
aus einer Zeit stammte, als er den Weg noch nicht gekannt hatte, den Allah für ihn vorherbestimmt hatte. Und dennoch konnte er sich nicht wehren. Er sah die beiden Falken, die am Himmel kreisten, und die Jungen, die nebeneinander ritten.
Was sie taten, war verboten, das wussten sie beide, denn sie durften noch nicht allein in die Berge reiten. Sie waren noch viel zu jung, ihre Väter hatten es ihnen untersagt. Aber sie waren voller Ideen, Tatendrang und Lebensfreude. Und sie waren Freunde. Sie konnten sich aufeinander verlassen. Keiner würde den anderen jemals verraten. Doch dann war es geschehen. Eines der beiden Pferde scheute, warf seinen jungen Reiter ab und lief davon. Der Junge stürzte einen Abhang hinunter und geriet mit seinem Fuß in eine Felsspalte. Es war mitten in den Bergen, weit und breit gab es nichts und niemanden, der ihnen hätte zu Hilfe eilen können. Also stieg der andere Junge den Abhang hinunter und befreite seinen Freund. Mühevoll schleppte er ihn auf seinem Rücken wieder nach oben und setzte ihn auf sein eigenes Pferd. Der Fuß stand in einem seltsamen Winkel ab, und obwohl der Junge nichts von der Heilkunst verstand, erkannte er, dass das Gelenk seines Freundes gebrochen war.
»Wir müssen nach Hause«, sagte er zu seinem Freund, der immer noch tapfer versuchte die Tränen zurückzuhalten. »Du brauchst einen Arzt.«
»Nein!«, schrie der andere Junge. »So trete ich meinem Vater nicht unter die Augen. Lieber sterbe ich.«
Doch was nach Stolz und Tapferkeit klang, war in Wahrheit nichts anderes als Furcht. Die Furcht vor dem strengen, unnachgiebigen Vater, der keinen Widerspruch und keinen Ungehorsam duldete. Und natürlich die Furcht vor den empfindlichen Strafen, vor Schlägen und Demütigungen, die zu Hause auf ihn warten würden. Ob der andere Junge davon wusste, konnte er nicht sagen. Er sah ihn lange an. Und schließlich nickte er.
»Gut. Einen Tag lang werden wir weitergehen. Wenn wir jedoch bis zum- Abend keine Hilfe gefunden haben, kehren wir morgen früh bei Tagesanbruch nach Hause zurück. Ich lasse es nicht zu, dass du hier in den Bergen stirbst.«
Die Stimme des Freundes duldete keinen Widerspruch. Und dann gingen sie los. Der Freund führte das Pferd, während der Junge sich verzweifelt und halb ohnmächtig an den Sattel klammerte. Schmerz, Hitze, Durst - das waren die einzigen verbliebenen Erinnerungen an ihre lange, einsame Wanderung durch die Berge.
»Nein!« Hassan schüttelte heftig den Kopf, als könnte er dadurch den Bildern aus der Vergangenheit Einhalt gebieten. »Ich will davon nichts mehr hören!«
Der Mann zuckte gleichgültig mit seinen mageren Schultern wie einer, der nichts mehr zu verlieren hatte.
»Gut. Was also willst du von mir?«
»Ich will ein Bildnis von ibn Sina.«
Der Mann blinzelte, neigte seinen Kopf zur Seite und sah Hassan an, als hätte er die Worte nicht verstanden.
»Was willst du?«
»Du hast richtig gehört. Ich will, dass du ein Bildnis von Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina zeichnest. Jetzt. Hier. In diesem Raum.«
»Aber ... Das ist doch verboten.«
»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Hassan und begann zu lachen. Plötzlich, wie ein Geschenk vom Himmel, waren sie wieder da, seine Sicherheit, sein Wille, seine Stärke. Er wusste wieder, was zu tun war, er wusste, dass es richtig war. Und die Ausflüchte dieses elenden Geschöpfs waren in der Tat eher kindisch und grotesk als ernst zu nehmend. »Du hast dich doch noch nie darum geschert, was verboten ist. Oder warst du es etwa nicht, der sich >Künstler< nannte und ketzerische Zeichnungen von allen möglichen Geschöpfen Allahs angefertigt hat?«
»Ja, schon, aber einen Menschen ...« Die Blicke des Mannes irrten kreuz und quer durch das Zimmer, ohne zwischen Staub und Verfall einen Punkt zu finden, auf dem sie ruhen konnten. Doch Hassan ließ sich nicht täuschen. Der Gefangene fürchtete nicht die Aufgabe. Hassan hatte es ihm zwar nie wirklich nachweisen können, doch er wusste , dass dieser Kerl schon früher die Gesichter - und sogar die nackten Körper - von Menschen gezeichnet hatte. Jetzt suchte er nur nach Ausreden, windigen Vorwänden, um den Befehl verweigern zu können. Kein Wunder, die Söhne des Teufels hielten zueinander. »Warum, Hassan? Wozu brauchst du ein Bild von ibn Sina?«
Dieser plötzliche, klare, offene Blick und die direkte Frage brachten Hassan wieder aus dem Gleichgewicht, aber nur für einen kurzen Moment.
»Das geht dich eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher