Das Auge der Fatima
bleich geworden. »Über das, was heute Nacht hier geschehen ist, Stillschweigen zu bewahren ist unsere heilige Pflicht. Allah hat sie uns in Seiner unermesslichen Güte und in Seinem Vertrauen auf unsere Beständigkeit auferlegt, um die Seelen der Gläubigen, das Volk von Gazna vor der ansteckenden Krankheit des Frevels zu schützen, der hier in diesen vier Wänden geschehen ist.«
Die beiden Männer nickten eifrig.
»Herr, so wahr wir hier stehen, Ihr könnt Euch auf uns verlassen.«
»Gut. So nehmt diesen verfluchten Kadaver und schafft ihn vor die Tore der Stadt. Beeilt euch und sorgt dafür, dass niemand euch beobachtet.«
»Jawohl, Herr!«
Die beiden Soldaten schulterten die Säcke und gingen im Laufschritt davon. Hassan war allein.
Nachdenklich sah er sich um. Nichts deutete mehr darauf hin, dass hier vor wenigen Momenten ein Mann gestorben war. Dann fiel sein Blick auf die vier mit präzisen Tintenstrichen bedeckten Bogen Pergament. Eigentlich sollte er jetzt zufrieden sein, sehr sogar. Er hatte das Porträt von ibn Sina und konnte schon in den nächsten Stunden vier zuverlässige Reiter damit auf die Suche schicken. Der gottlose Maler selbst war tot, und alle Spuren seiner Hinrichtung waren beseitigt. Abgesehen von einer Hand voll Spinnen gab es keine Zeugen, die dem Volk von Gazna von seiner eigenen Schwäche berichten konnten. Und die zwei Soldaten hatten viel zu viel Angst, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Falls sie in ihrer Einfalt überhaupt alles verstanden hatten. Und trotzdem - dieses zufriedene Lächeln auf dem Gesicht des Toten wollte ihn einfach nicht loslassen.
»Allah!«, flüsterte Hassan und hob seine Hände zum Gebet. »Was habe ich übersehen? Welchen Fehler habe ich begangen?«
Doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen erklang die Stimme des Muezzins und mahnte die Gläubigen zum morgendlichen Lobpreis Allahs. Hassan wandte sich in Richtung Mekka, der heiligen Stadt des Propheten, und kniete sich auf den schmutzigen Brettern nieder. Da er nicht damit gerechnet hatte, dass sein Vorhaben so viel Zeit in Anspruch nehmen würde, hatte er seinen Gebetsteppich im Palast gelassen. Aber Allah würde ihm diese Verfehlung gewiss verzeihen. Hassan neigte sich zu Boden, bis seine Stirn den Staub berührte. Und doch wollte der Trost nicht über ihn kommen, den ihm das Gebet sonst immer verlieh. Während sein Mund mit hundert- tausenden von Gläubigen im ganzen Land und auf der ganzen Welt in den Lobpreis Allahs mit einstimmte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem Gefangenen zurück.
Tariq, dachte er, welches schändliche Geheimnis hast du vor mir verborgen? Welchen teuflischen Plan hast du ausgeheckt, sodass du mich sogar noch im Angesicht des Todes verspottet und ausgelacht hast?
Hewlett-Packard
16.
B eatrice stand auf einem Balkon. Dies musste wohl einer der höchsten Türme des Palastes sein, denn sie konnte den gigantischen Komplex von Kuppeln, Türmen und Mauern weit überblicken, die Palastgärten breiteten sich in ihrer ganzen Schönheit vor ihr aus, und zu ihren Füßen lag die Stadt Gazna. Alles war dunkel und still. In keinem der ungezählten Fenster brannte ein Licht, die Straßen der Stadt waren leer und verlassen, sogar die Wachfeuer auf der Palastmauer waren erloschen. Niemand schien zu dieser Stunde wach zu sein, abgesehen von ihr selbst und den Millionen von Sternen über ihr. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie hier oben auf dem Turm stand. Sie konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, wie sie überhaupt hierher gekommen war. War sie etwa im Schlaf durch den Palast gewandert? Oder hatten die gleichen giftigen Stäube, die auch Reza in der Bibliothek den Verstand geraubt hatten, sie in eine Art Trance versetzt? Noch während sie sich diese Fragen stellte, nahm sie plötzlich einen vertrauten Geruch wahr. Er umwehte sie wie eine sanfte Brise. Es war der Duft von Amber und Sandelholz - ein Duft, der eine Vielfalt von Erinnerungen weckte.
»Saddin?«, flüsterte sie und wandte sich um.
Tatsächlich, kaum einen Meter von ihr entfernt stand er. Er trug die leichte helle Kleidung der Nomaden, und sein langes dichtes Haar hatte er wie üblich im Nacken zusammengebunden. An seinem Gürtel baumelte ein schlanker Säbel. Eigentlich tat er nichts. Nichts Großartiges wenigstens. Er stand einfach nur vor ihr, sah sie mit seinen dunklen Augen an und lächelte auf diese ihm eigene, ganz besondere Art. Das war alles, doch es reichte schon aus, um ihren Puls
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