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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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zu Hilfe schicken, die jemals in der Stadtwache gedient hatten? Trotzdem ging er in die Ecke des Raums, in die der Kopf gerollt war und beugte sich über ihn, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte. Die Augen des Toten standen weit offen, so wie es bei Enthaupteten oft der Fall war. Trotzdem war es anders als bei anderen Hinrichtungen, deren Zeuge Hassan im Laufe seines Lebens geworden war. Und jetzt verstand er auch die Furcht der Soldaten. Der Tote starrte Hassan an. Nicht anklagend und auch nicht angst- oder hasserfüllt, wie es eigentlich zu erwarten war und wie er es schon oft gesehen hatte. Nein, dieser Tote sah erstaunlich zufrieden und erleichtert aus. Er lächelte sogar.
    »Schafft ihn fort«, sagte Hassan. Seine Stimme klang merkwürdig heiser, und er räusperte sich, um das seltsame Kratzen in seiner Kehle zu unterdrücken, die plötzlich enger geworden zu sein schien. Er erhob sich wieder, doch an seinen Schultern schienen Bleigewichte zu hängen. »Nehmt Säcke, wenn ihr euch fürchtet, ihn zu berühren. Bringt ihn vor die Tore der. Stadt. Sein Leichnam soll heimlich verbrannt werden. Und vergesst nicht, seine Asche anschließend in alle Winde zu zerstreuen.« Doch die Soldaten machten immer noch keine Anstalten, sich zu rühren. »Beim Barte des Propheten, das ist ein Befehl!«, brüllte Hassan so laut, dass es von den Wänden widerhallte und das baufällige Haus in seinen Grundmauern erzitterte. »Wenn ihr nicht sofort tut, was ich sage, lasse ich euch wegen Verweigerung meiner Befehle auspeitschen.«
    Diese Drohung half. Endlich bewegten sich die beiden Männer. Der große Soldat lief davon und kam wenig später mit zwei Säcken zurück, in denen sie gemeinsam und unter Gebeten zu allen heiligen Engeln Allahs die Überreste des Gefangenen verstauten, während Hassan an eine Wand gelehnt dastand und ihnen zusah, als wäre er an der ganzen Angelegenheit völlig unbeteiligt.
    Er war tot. Endlich. Tariq, jener Mann, der ihn damals, als sie beide noch Knaben gewesen waren, beinahe auf den falschen Weg gebracht hätte, fort von der reinen Lehre des Korans, hatte nun endlich seine gerechte Strafe erhalten. Doch das Gefühl des Triumphes, das er eigentlich in diesem so lange schon herbeigesehnten Moment hätte empfinden sollen, blieb aus. Stattdessen spürte er ein dumpfes Unbehagen. Es war wie der schale Geschmack von altem, abgestandenem Wasser, das den Durst nicht wirklich zu löschen vermag. Es war die unheilvolle Ahnung, dass er etwas übersehen oder vergessen oder gar einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Hassan schüttelte den Kopf, um diese seltsamen Gedanken loszuwerden. Vielleicht hatte es mit den Erinnerungen zu tun, die der Gefangene vorhin mit seinem Geschwafel heraufbeschworen hatte. Erinnerungen an eine Vergangenheit, als er in seiner jugendlichen Naivität die verdammenswerten Absichten dieses Gefangenen noch nicht durchschaut und ihn sogar »Freund« genannt hatte. Es musste daran liegen. Welchen Grund konnte es sonst geben? Selbst der eifrigste Diener Allahs war letztlich vor Sentimentalität nicht gefeit. Und manchmal wurde auch das treueste Herz schwach ...
    »Herr, wir sind fertig«, sagte der große Soldat, nachdem sie sich sogar die Mühe gemacht hatten, die Blutspuren auf dem Boden und den Wänden zu beseitigen.
    Hassan begutachtete alles und nickte schließlich. Er konnte zufrieden sein. Und trotzdem ...
    »Bevor ihr geht und eure Arbeit in der Wüste beendet, schwört ihr bei Allah und allem, was euch heilig ist, dass ihr mit keinem Menschen über das, was ihr heute Nacht gesehen habt, reden werdet, weder mit euren Freunden und Vorgesetzten noch mit euren Frauen und Kindern.« Das war eigentlich überflüssig. Die Soldaten der Stadtwache hatten keine Familie und nur selten Freunde. Doch er musste verhindern, dass sie auf der Straße oder in den Armen der Huren mit ihren Erlebnissen prahlten. »Nicht einmal wenn unser edler Herrscher Subuktakin selbst euch danach fragen sollte, werdet ihr ein Wort darüber verlieren. Niemals. Schwört ihr das?«
    Beide Männer hoben ihre linke Hand in die Höhe.
    »Ja, Herr, wir schwören!«, sagten sie wie aus einem Mund, und Hassan registrierte nicht ohne Erstaunen, dass der kleine Soldat tatsächlich auch sprechen konnte.
    »Denkt immer daran, dass eure Seelen die Freuden des Paradieses niemals kennen lernen werden, solltet ihr es jemals wagen, diesen Schwur zu brechen.« Die beiden Soldaten warfen sich einen kurzen Blick zu. Sie waren

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