Das Auge der Fatima
auf schätzungsweise hundertzwanzig zu beschleunigen und ihre Knie weich werden zu lassen wie die eines Teenagers, der unerwartet auf der Straße seinem Lieblingsstar begegnet. »Saddin? Wie kommst du hierher? Warum ...«
Sie brach ab, weil sie nicht wusste, welche Frage sie zuerst stellen sollte. War er schon lange in Gazna? Und wie gelangte er in den Palast? In Buchara hatte er die Fäden der Stadt fest in seinen Händen gehalten. Nichts war geschehen, ohne dass er es gewollt oder wenigstens davon gewusst und es gebilligt hatte. Doch reichte seine Macht auch in Gazna so weit, dass er nach Belieben im Palast ein und aus gehen konnte? Woher wusste er überhaupt, dass sie jetzt hier war? Dass er sie in dieser Nacht hier auf dem Turm treffen konnte, und wieso ...
Und plötzlich begriff Beatrice. Sie stand gar nicht wirklich auf diesem Turm. Vermutlich lag sie in diesem Augenblick in ihrem Bett - und träumte. Es gab keine andere Möglichkeit. Dies war nichts weiter als ein Traum. Ein Traum wie jener, den sie in Shangdou gehabt und der sie damals vor Marco und seinen unlauteren Absichten gewarnt hatte.
»Du hast Recht, Beatrice«, sagte Saddin, als könnte er ihre Gedanken lesen. Genau wie damals in Buchara hüllte seine samtene Stimme sie ein, und wohlige Schauer rieselten ihre Wirbelsäule hinab wie ein erfrischender kühler Regen an einem heißen, schwülen Sommertag. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können. Diese Stimme war unvergleichlich. Selbst Todesurteile klangen aus Saddins Mund süß und erstrebenswert wie Liebeserklärungen. Sie wusste genau, wovon sie sprach. »Du träumst.«
»Ja«, sagte sie und versuchte sich nicht den Verlockungen eines solchen Traums hinzugeben. In Shangdou hatte Saddin sie warnen wollen. Vielleicht gab es auch diesmal einen Grund für seinen Besuch in einem ihrer Träume. Sie wandte sich von ihm ab und drehte ihm wieder den Rücken zu. So fiel es ihr leichter, einen klaren Kopf zu bewahren. »Was willst du mir diesmal mitteilen, Saddin?«
Beatrice hörte das leise Rascheln seiner Kleidung, als er hinter sie trat, so nahe, dass sie seinen warmen Atem in ihrem Nacken spüren konnte und sein Haar ihre Wange kitzelte. Seine Hände berührten kurz ihre Schultern, während seine Nase ihr Ohrläppchen streifte. Konnten Träume so real sein? Beatrice schloss die Augen und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass sie wieder in Buchara wäre, vor den Toren der Stadt in Saddins Zelt, auf dem weichen, mit Fellen bedeckten Bett und ...
»Du hast Recht, Beatrice.« Seine Worte holten sie so jäh aus diesem Wunschtraum zurück, als hätte man ihr kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Enttäuscht registrierte sie, dass Saddin jetzt neben ihr stand. Seine schlanken, mit zwei breiten Silberringen geschmückten Hände ruhten auf dem zierlichen Geländer des Balkons, als hätten sie dort schon immer gelegen. »Wir haben nur wenig Zeit. Du musst dich konzentrieren und mir zuhören. Du musst Gazna verlassen. Die Stadt ist nicht mehr sicher. Hassan ist bereits misstrauisch geworden. Er ist sich dessen zwar noch nicht bewusst, doch es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er sein Augenmerk auf dich richtet und mit seinen Nachforschungen beginnt. Außerdem ist er Ali al-Hussein auf den Fersen und somit ...«
Die Freude durchzuckte Beatrice wie ein Blitzschlag.
»Dann ist es also wirklich wahr?«, unterbrach sie ihn. »Ali lebt?«
Saddin sah sie lange an. »Ja«, sagte er schließlich, und es klang beinahe wie ein Seufzer. »Er lebt.«
»Und?« Beatrice war jetzt so aufgeregt, dass sie Saddin am Arm ergriff. Seltsam, schoss es ihr durch den Kopf, wenn dies wirklich ein Traum ist, weshalb fühlt er sich dann so fest und warm an, so lebendig und menschlich und genau wie früher, überhaupt nicht, wie man sich ein Traumgebilde vorstellt, das sich bei Berührung doch eigentlich in nichts auflösen müsste? »Was ist mit Michelle? Ist sie bei ihm?«
»Ja. Ich selbst habe sie ...«
»Natürlich!«, rief Beatrice aus. »Der Nomade! Die Frau in Qum erzählte von einem Nomaden, der Michelle begleitet hat. Das warst du?«
»Sie wollte zu ihm«, sagte Saddin und hob die Hände, als beabsichtigte er, sich bei ihr zu entschuldigen. Doch er lächelte dabei. »Michelle ist seine Tochter. Wie hätte ausgerechnet ich ihr das ausreden können?«
»Ich wusste es!«, sagte Beatrice und ballte die Hand zur Faust. Am liebsten hätte sie vor Freude und Triumph laut geschrien. »Ich wusste, dass
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