Das Auge der Fatima
Gäste.
Ein Mädchen eilte auf Beatrice zu und führte sie an ihren Platz im Kreis der jungen Frauen. Kraftlos ließ sie sich auf das Polster sinken.
Jetzt ist es vorbei!, dachte sie unglücklich und suchte nach einer passenden Antwort oder einer Fluchtmöglichkeit.
Doch zu ihrer großen Erleichterung schien Yasmina keine Notiz von ihr zu nehmen. Sie lag lässig ausgestreckt auf ihrem Podest, ein Bild wie eine Prinzessin aus einem Hollywood- Märchenfilm der fünfziger Jahre, und unterhielt sich gerade mit einer Frau auf der anderen Seite des Kreises. Beatrice schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht würde ja trotzdem alles gut gehen. Yasmina konnte wohl kaum ihr Essen genießen und gleichzeitig alle zweihundert Frauen um sich herum im Blick behalten.
Doch erst als die Diener das Essen hereinbrachten und Yasmina sie immer noch keines Blickes gewürdigt hatte, entspannte sich Beatrice ein wenig und wandte ihre Aufmerk - samkeit den Speisen zu. Die Messingplatten und Teller bogen sich fast unter dem Gewicht der eingelegten Oliven, dem in Scheiben geschnittenen kalten Fleisch, den kleinen, nach Knoblauch und Lamm duftenden Würsten, Brot und Käse. Verstohlen betrachtete Beatrice die Frauen, die rechts und links neben ihr saßen. Beide waren junge, magere Geschöpfe, sicher kaum älter als vierzehn, die so gierig die Speisen in sich hineinstopften, als hätten sie ebenfalls eine Wüstenwanderung hinter sich gebracht. Dieses Verhalten war so ungewöhnlich für Damen aus gutem Hause, dass Beatrice davon ausging, dass es sich bei ihren Tischnachbarinnen um Dienerinnen handelte.
Umso besser, dachte Beatrice erfreut und nahm sich eine der mit Schafskäse gefüllten und in Knoblauchöl eingelegten Oliven, die fast die Größe von Hühnereiern hatten. Wenn sie viel essen, können sie wenigstens nicht mit mir sprechen und mir dumme Fragen stellen.
Sie begann allmählich Gefallen an dem Essen zu finden. Beiläufig registrierte sie, dass sie ausschließlich von gut gewachsenen jungen Männern bedient wurden. Trotzdem schienen die Frauen nicht einen Moment daran zu denken, ihre Schleier vor die Gesichter zu ziehen und sich - so wie es sich eigentlich gehörte - zu verhüllen. Im Gegenteil. Offensichtlich war es hier wie überall auf der Welt. Vor der Ehe durfte Yasmina noch einmal den Anblick anderer Männer in vollen Zügen genießen. Und vermutlich tat Malek, der Bräutigam, in eben diesem Augenblick das Gleiche.
»Wie ist dein Name?«
Eine ruhige, klare Stimme riss Beatrice aus ihren Gedanken, und sie sah erschrocken auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es die Stimme von Yasmina war und dass sie selbst angesprochen worden war. Plötzlich schienen alle Gespräche zu verstummen und alle Blicke sich auf sie zu richten, so als hätte jemand das Licht im Saal ausgeknipst und nur sie selbst säße jetzt direkt im Kegel eines Spotlights.
Beatrice wurde abwechselnd heiß und kalt. War sie unvorsichtig gewesen? Hatte sie durch eine unbedachte Geste Yas- minas Aufmerksamkeit erregt? Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Nun war es doch so weit. Jetzt würde alles ans Licht kommen. Man würde sie davonjagen, und dann ...
»Mein Name ist Sekireh«, antwortete sie und hoffte inständig, dass ihre Stimme nicht zu sehr zittern möge.
»Ach, natürlich, Sekireh«, sagte Yasmina und lachte leise. »Meine liebe Cousine, die einen so beschwerlichen Weg hinter sich gebracht hat, nur um am Tage meiner Hochzeit meine Freude mit mir zu teilen. Meine Mutter erzählte mir von deiner Wanderung durch die Wüste. Vergib mir, dass ich dich nicht sofort erkannt habe.«
Yasmina verneigte sich, berührte Mund und Stirn mit ihrer Hand und lächelte. Doch ihre Augen, beinahe erschreckend helle, kluge und wachsame Augen, waren dabei so forschend auf Beatrice gerichtet, dass ihr der Schweiß ausbrach. Es gab keinen Zweifel, diesen Augen entging nichts. Yasmina wusste, dass sie nicht ihre Cousine war. Aber weshalb schlug sie dann nicht Alarm? Weshalb gab sie nicht einfach den Dienern den Befehl, sie aus dem Festsaal zu entfernen und in Ketten zu legen? Oder sparte sie tz sich als Krönung für einen ganz besonderen Augenblick auf?
Den Rest der Mahlzeit konnte Beatrice nicht mehr genießen. Sie rührte kaum noch etwas an und ließ sogar die Süßspeisen - köstliches, nach Mandeln, Honig, Rosenblüten und Zimt duftendes Gebäck, Pfannkuchen mit Sirup und reife Pfirsiche - stehen. Die Tänzerinnen, die unter dem johlenden
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