Das Auge der Fatima
dunklen Silhouetten der zahlreichen Pferde und Reiter hoben sich deutlich vom silbrigen Himmel ab. Yasmina war umringt von ihrer Familie und den Dienern, die in lautes Jammern und Wehklagen ausbrachen. Jeder Einzelne von ihnen wollte ausgiebig Abschied von ihr nehmen. Beatrice stand allein etwas abseits der Familie. Sie kam sich fremd und verloren vor, und gleichzeitig war es ihr peinlich, einfach dazustehen und dabei in die Intimsphäre einer ihr letztlich vollkommen fremden Familie einzudringen. Also beschloss sie, sich ein wenig umzusehen. Gemächlich schlenderte sie über den Platz zu den Pferden, die bereits fertig gesattelt und gezäumt auf ihre Reiter warteten. Mitten unter den gewöhnlichen Pack- und Reitpferden standen zehn Schimmel. Sie waren ein Geschenk von Yasminas Vater an Maleks Familie. Schon auf den ersten Blick erkannte Beatrice, wie wertvoll die Tiere waren. Sie waren ohne Zweifel Vollblüter edelster Herkunft, möglicherweise ließ sich ihr Stammbaum sogar bis zu den fünf Lieblingsstuten des Propheten zurückverfolgen. Alle zehn Pferde hatten die schlanke, zierliche Statur der Araber- Pferde. Ihr schneeweißes Fell schimmerte im Morgenlicht silbern, und ihre langen, vollen Mähnen und Schweife glänzten wie kostbare Seide. So schöne Pferde wie diese hatte Beatrice erst einmal in ihrem Leben zu Gesicht bekommen - in Shangdou, im Garten von Khubilai Khan, dem berühmten Herrscher der Mongolen und Chinesen. Beatrice streckte ihre Hand aus und ließ sie von einem der Tiere beschnuppern. Sie tätschelte den schlanken Hals. Das Fell war so weich, als würde es aus Flaumfedern bestehen. Sie flüsterte dem Pferd gerade ein paar Koseworte ins Ohr, als plötzlich Jaffar und einer seiner Männer auftauchten. Die beiden kamen näher und sahen sich um, als ob sie sich vergewissern wollten, dass niemand außer ihnen in der Nähe war.
Beatrice dachte nicht lange nach, sondern versteckte sich hinter dem Pferd. Natürlich hätte sie einfach davonschleichen, ja, vermutlich hätte sie sogar unbefangen an den beiden Männern vorbeigehen können. Sie war schließlich ein Mitglied der Karawane, sie hatte das Recht, sich hier umzusehen. Trotzdem blieb sie in ihrem Versteck. Eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr, dass es besser wäre, wenn sie wüsste, was die beiden Männer zu besprechen hatten. Sie duckte sich und spähte unter dem Hals des Pferdes hindurch.
»Es ist niemand da, Aziz«, sagte Jaffar zu dem anderen Mann und sah sich noch einmal nach allen Seiten hin um. »Schnell, sprich, bevor einer von ihnen kommt. Was hast du herausgefunden?«
»Wenig, Jaffar, leider nur wenig«, erwiderte der Mann. Er war mindestens einen Kopf kleiner als der Karawanenführer und dabei so schmal und zierlich, als wäre er eigens dafür geschaffen worden, durch Gitterstäbe, Türspalten und Fenster zu huschen.
Eigentlich sieht er aus wie ein Frettchen, dachte Beatrice.
»Das Mädchen mit dem goldenen Haar und den blauen Augen war hier in Qum, Jaffar«, fuhr er fort. »So viel steht fest. Aber wohin sie und ihr Begleiter dann geritten sind, scheint niemand zu wissen.«
Beatrice hielt die Luft an und presste instinktiv die Hand auf den Mund, um vor Überraschung nicht zu schreien. Ihr Herz begann einen Trommelwirbel zu schlagen, und ihr wurde glühend heiß. Diese beiden Kerle sprachen von Michelle! Da war sie sich ganz sicher. Aber was wollten sie von ihrer Tochter? Waren sie etwa diejenigen, vor denen Michelles Begleiter angeblich auf der Flucht war?
»Hm«, brummte Jaffar sichtlich verärgert. »Das ist wahrlich nicht viel.«
Der kleine Mann hob entschuldigend die Schultern.
»Es tut mir Leid, ich kann nichts dafür. Die Spur ist bereits einige Wochen alt. Wir können überhaupt von Glück sagen, dass sich hier noch jemand an die Kleine erinnert. Immerhin kommen Tag für Tag viele Reisende durch Qum.«
»Ich weiß, Aziz, ich weiß«, sagte Jaffar ungeduldig. »Aber kannst du mir verraten, was ich jetzt denen in Gazna erzählen soll?« Er stöhnte. »Sie werden nicht besonders erfreut sein von uns zu hören, dass wir keine deutliche Spur von dem Mädchen gefunden haben.«
»Und was nun?«, fragte der kleine Mann. »Soll ich voraus- reiten und den Fidawi ...«
Beatrice zuckte zusammen. Fidawi? Sie kannte dieses Wort, hatte es irgendwo schon einmal gehört. Aber wo und in welchem Zusammenhang? Fidawi. Was auch immer dieses Wort bedeuten mochte, es hatte keinen guten Klang. Ganz und gar nicht.
»Beim Barte des Propheten!
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