Das Auge der Fatima
geht los!«, rief sie aufgeregt, als sich die Karawane auf einen schrillen Pfiff hin in Bewegung setzte.
Yasmina tupfte sich mit einem seidenen Tuch die Tränen von den mit Kohle geschminkten Augen. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie die Freude und Erregung ihrer Dienerin teilen würde.
»Ja«, erwiderte sie tonlos. »Etwa zehn Tage sind wir unterwegs, bis wir Gazna erreichen. Und was dort auf mich wartet, weiß nur Allah.«
»Du hast mir gestern erzählt, dass Gazna eine große Stadt sei«, sagte Beatrice und sah Yasmina bedeutungsvoll an. »Meiner Erfahrung nach sind in großen Städten viele Dinge möglich, die anderswo nie geschehen könnten. Man erzählt sich so viel. Wer weiß, vielleicht ist Gazna sogar ein Ort, an dem Träume wahr werden können.«
Unter ihrem Blick verschwand die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit von Yasminas Gesicht, und schließlich lächelte sie sogar.
»Du hast Recht. Ich sollte nicht traurig sein über das, was ich hinter mir lasse«, erwiderte Yasmina. »Vielmehr sollte ich mich auf das freuen, was vor mir liegen mag. Natürlich ist alles ungewiss, verborgen hinter den dichten Schleiern der Zukunft. Doch gerade diese Ungewissheit birgt viele Möglichkeiten, unendlich viele. Und es mag sein, dass bei näherer Betrachtung die meisten davon sogar sehr schön sind.«
»Seid nicht betrübt, Herrin, wenn Euch Ängste plagen. Ihr seid noch jung und unerfahren. Doch ich bin sicher, dass Euch das Leben an der Seite Eures Ehemannes gefallen wird«, sagte die Dienerin, die natürlich nicht begriff, dass Yasmina von anderen Dingen als der Ehe sprach. »Euer Gemahl ist so ein edler, schöner und großmütiger Herr. Wenn Ihr meine eigene Tochter wärt, ich würde Euch keinen anderen Gemahl wünschen. Ihr werdet sehen, dass ich Recht habe, Herrin. Ihr werdet glücklicher sein, als Ihr es je zuvor wart. Und wenn sich dann eines Tages alle Eure Hoffnungen erfüllen und Euch die ersehnten Söhne geboren werden ...«
Ein derart seliges Lächeln verklärte das Gesicht der Dienerin, dass man den Eindruck gewinnen konnte, in Wahrheit sei sie es, die gerade frisch vermählt worden war.
»Du hast Recht, Mahtab«, sagte Yasmina, doch ihr Lächeln wirkte gequält. »Mich erwartet gewiss ein schönes Leben voller Glück und Zufriedenheit.«
»Und Liebe, Herrin«, fügte die andere Dienerin hinzu.
»Ja, natürlich, Liebe.« Yasmina sprach so leise, dass nur noch Beatrice direkt neben ihr sie verstehen konnte. »Ich denke die ganze Zeit über an nichts anderes.«
Bereits vom ersten Tag ihrer Reise an begann sich die Landschaft zu verändern. Sie war bei weitem nicht mehr so karg und lebensfeindlich wie die, die Beatrice auf ihrem Weg nach Qum durchquert hatte. Die Grasbüschel wurden immer dichter, und ihre Farbe wechselte von dem halb vertrockneten, ungesunden Grau zu einem lebendigen, saftigen Grün. Vereinzelt wuchsen sogar kleine verkrüppelte Bäume, die trockene, wie verschrumpelte Lederbeutel aussehende Früchte trugen. Die Steine schienen zu wachsen, bis aus dem überall herumliegenden Geröll richtige Felsen geworden waren, manche von ihnen so riesig, dass ein Reiter sich ohne Schwierigkeiten dahinter verstecken konnte. Das Land wurde immer hügeliger, und der dunkelgraue Schatten, anfänglich kaum mehr als ein Streifen, der sich am Horizont in die Höhe erhob, wurde beinahe von Stunde zu Stunde größer. Je näher sie dem Gebirge kamen, umso fruchtbarer wurde auch das Land. Wenn sie die dichten Vorhänge einen winzigen Spalt öffnete, sah Beatrice immer öfter schmale Bäche, in denen das Wasser träge über die Steine floss, als würde es sich vor der nahen Wüste fürchten. Sie sah Schaf- und Ziegenherden, Gemüsebeete und Getreidefelder. Anfangs waren die Tiere noch mager, und Obst und Gemüse wuchs nur vereinzelt auf den kargen grobscholligen Äckern. Doch Schafe und Ziegen wurden allmählich dicker und Gurken und Melonen immer größer. Und sie sah Häuser. Niedrige Häuser mit flachen Dächern und winzigen Schießscharten ähnlichen Fenstern. Schließlich erblickte sie sogar vereinzelte Wälder.
Von diesen optischen »Höhepunkten« einmal abgesehen, verlief ihre Reise überaus eintönig. Den ganzen Tag ertrugen sie tapfer die Hitze und ließen sich träge von den gleichmäßigen Bewegungen hin und her schaukeln, die zwar lästig, aber keinesfalls so schlimm waren, wie Beatrice befürchtet hatte. Vermutlich lag es an der Größe der Sänfte. Das ständige Auf und Ab war kaum
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