Das Auge der Fatima
davor, einer Wahrheit zu begegnen, die imstande war, sein ganzes Weltbild auf den Kopf zu stellen? Wenn ja, dann war er in der Tat nicht besser als jener Muezzin, der heute Vormittag in sein Haus gekommen war und ihm vorgeworfen hatte, zu selten in der Moschee zu erscheinen. Dann war er auf seine eigene Art ebenso verbohrt und verstockt. Und dieser Gedanke gefiel Ali al-Hüssein überhaupt nicht.
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11.
F idawi.
Beatrice setzte sich ruckartig im Bett auf und wusste nicht mehr, wo sie war. Sie hatte geschlafen, so viel war klar. Und aus den unergründlichen Tiefen eines Traums, an den sie sich noch nicht einmal mehr erinnern konnte, war gerade dieses Wort aufgetaucht, das sie vor gar nicht so langer Zeit in der Oase von Qum gehört hatte. Fidawi.
Zitternd zog sie sich die seidene Bettdecke um die Schultern. Doch es war nicht die Kälte, die ihre Zähne so heftig aufeinander schlagen ließ, dass sie sich anhörten wie die alte Nähmaschine ihrer Großmutter. Sie hatte Angst, panische Angst. Es war eine abgrundtiefe, existenzielle Furcht, die ihren Puls beschleunigte und ihr kalten Schweiß auf die Stirn trieb, denn plötzlich wusste sie es wieder. Sie wusste, wo sie dieses Wort vorher schon einmal gehört hatte. Und sie wusste auch wieder, was es bedeutete, was hinter diesen unschuldigen sechs Buchstaben steckte. Fidawi.
Beatrice erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte von Saddin geträumt, damals, in jener Nacht, als Michelle geboren worden war. Er hatte ihr von den Fidawi erzählt. Irgendwann danach, ein paar Wochen später, hatte sie im Internet recherchiert. Was sie dabei herausgefunden hatte, war haarsträubend gewesen. Beatrice schloss die Augen, während sie alle Fakten über die Fidawi aus ihrem Gedächtnis hervorkramte, an die sie sich noch erinnern konnte.
Die Fidawi waren Angehörige des geheimen Ordens der Assassinen gewesen, der von einem fanatischen Islamisten etwa im 11. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung gegründet worden war. Unter den Mitgliedern dieses Ordens bildeten die Fidawi eine eigene Schicht. Sie wurden besonders sorgfältig und nach langen, schweren Prüfungen vom Großmeister persönlich ausgewählt und schließlich in einer geheimen, versteckt in den Bergen liegenden Festung zu gerissenen Mördern ausgebildet. Von dort aus wurden sie in alle Himmelsrichtungen ausgesandt. Sie warteten im Verborgenen, lebten jahrelang unerkannt unter den Menschen, oft getarnt als harmlose Kaufleute, Handwerker und Bauern, bis sie schließlich eines Tages der Befehl ihres Großmeisters erreichte. Und dann wurden von einem Tag zum nächsten aus den freundlichen Männern von nebenan grausame, unerbittliche Killer, bereit, in blindem Gehorsam und ohne jede Gnade die »Feinde des Islam« zu töten. In den fast zwei Jahrhunderten ihrer Existenz hatten die Fidawi ihre Herrschaft überall im Orient gefestigt und sogar unter ihren eigenen Glaubensbrüdern Angst und Schrecken verbreitet. Jeder Moslem, der nicht buchstabengetreu den Wortlaut des Korans befolgte, musste damit rechnen, auf einer ihrer gefürchteten Todeslisten zu erscheinen. Ahmad, der Finanzminister Khubilai Khans, war einer von ihnen gewesen. Vermutlich war er sogar einer der letzten überlebenden Fidawi, einer der wenigen, die dem vernichtenden Feldzug des Mongolen Hülegü entronnen waren. Beatrice hatte Ahmads Hass deutlich zu spüren bekommen. Damals in Taitu hatte sie diese lodernde, alles verschlingende Feindseligkeit und Verbitterung nicht verstanden und geglaubt, sie würden sich ausschließlich gegen sie richten, weil sie - eine »Ungläubige« - einen der Steine der Fatima besaß.
Erst viel später, als sie von ihrer Zeitreise wieder nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie begriffen, dass Ahmad ihren Saphir begehrt hatte, um sein eigentliches Ziel zu verwirklichen. Ein Ziel, das eines Fidawi würdig war - die Zerschlagung seines Ordens zu rächen und das gesamte mongolische Volk zu vernichten. Das waren die Fakten. Selbst zu Hause vor ihrem Computer hatten sie Beatrice geängstigt, obwohl es den Orden der Assassinen bereits seit den Tagen des Mongolenfürsten Hülegü nicht mehr gab - angeblich.
Doch jetzt, gerade in diesem Augenblick, hielt sie sich im 11. Jahrhundert auf. Der geheime Orden der Assassinen gehörte nicht einer nebulösen, verschwommenen Vergangenheit an, wie es das Mittelalter aus der Sicht des 21. Jahrhunderts war. Dies hier war das Mittelalter. Es gab die Fidawi. Sie lebten
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