Das Auge der Fatima
mitten unter den Menschen. Hier. In dieser Stadt. Unter jedem Tuch, Fez oder Turban in den engen Gassen von Gazna konnte einer von ihnen stecken, jederzeit bereit zu töten. Lebende Zeitbomben, deren Auslöser und Zeitpunkt der Explosion nur einer kannte - der Großmeister persönlich. Und diese religiösen Fanatiker waren jetzt hinter Michelle her. Hinter ihrer kleinen, fröhlichen Michelle, deren größtes Verbrechen darin bestand, mit zwei bunten Steinen gespielt zu haben, die sie in einer Kiste im Kleiderschrank ihrer Mutter gefunden hatte. Beatrice wurde übel.
Sie stand auf, ging zum Fenster und schob die schweren seidenen Vorhänge zurück. Ein angenehm kühler Wind drang zwischen den Stäben des geschnitzten Holzgitters zu ihr herein. Sie atmete ein paarmal tief durch, und allmählich verschwand die Übelkeit wieder. Vor ihr lagen im fahlen Licht der Sterne die Kuppeln der Stadt. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie, wieder in Buchara zu sein, doch die Moschee stand nicht an ihrem gewohnten Ort. Zudem konnte sie von ihrem Fenster aus über viele Dächer hinweg den Palast des Emirs sehen. Die Umrisse seiner Kuppeln und Türme, der Erker und Mauern hoben sich dunkel vom nächtlichen Himmel ab. Lediglich ein einzelnes der zahllosen Fenster war schwach erleuchtet. Vermutlich gab es dort jemanden, der ebenso wenig schlafen konnte wie sie.
Natürlich war dies hier nicht Buchara und auch nicht der Harem eines Emirs. Dies hier war Gazna. Sie genoss dankbar die Gastfreundschaft von Yasmina, Malek und dessen Familie. Es waren überaus freundliche und aufgeschlossene Menschen, die keinen Augenblick gezögert hatten, die Fremde willkommen zu heißen und bei sich aufzunehmen.
Beatrice lehnte ihre Stirn gegen das Fenstergitter. Die Dächer der Stadt waren schwarze Löcher in der Dunkelheit. Unter irgendeinem von ihnen verbargen sich die Fidawi. Dort schmiedeten sie ihre Ränke, dort planten sie ihre Morde. Sie stellte sich vor, wie die Fidawi, eingehüllt in lange schwarze Kutten und auf riesigen schwarzen Pferden reitend, das Land durchstreiften, um Michelle aufzuspüren, ihrer Spur nachzuschnüffeln, um sie schließlich mit eisig kalten, todbringenden Klauen zu packen. Natürlich war dieser Gedanke Unsinn. Die Fidawi waren schließlich keine »Schwarzen Reiter«, wie sie von Tolkien im Herrn der Ringe beschrieben wurden. Obgleich Beatrice sie kaum weniger beängstigend fand. Der Gedanke daran, dass sie vielleicht schon eine Spur von Michelle hatten, war schrecklich genug. Vielleicht befand sich ihre Kleine zu diesem Zeitpunkt sogar bereits in der Gewalt dieser Fanatiker. Vielleicht war sie längst von ihnen ...
Nein! An so etwas durfte sie gar nicht erst denken.
Beatrice schluckte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Heulen half ihr jetzt ebenso wenig weiter wie Verzweiflung und Resignation. Immerhin hatte der Nomade Jaffar den Fidawi auch nicht mehr erzählen können, als sie selbst wusste. Das war ein Trost, wenn auch nur ein schwacher, denn seit sie in Gazna war, war sie mit ihren Nachforschungen nicht einen Schritt vorangekommen. Sie hatte nicht einmal einen Hinweis, wo sie ihre Suche nach Michelle fortsetzen sollte. Wie viele Kundschafter hatten hingegen die Fidawi abgesehen von Jaffar noch ausgeschickt, um Michelle zu finden? Sie kannten dieses Land, sie kannten die Menschen. Sie konnten nicht nur auf ihre treuen Gefolgsleute zurückgreifen, sondern auch mit Drohungen und Einschüchterungen arbeiten. Diese Kerle hatten so unendlich viel mehr Möglichkeiten als sie. Es war zum Verzweifeln.
Am Horizont zeigte sich ein schwacher Lichtschein. Nicht mehr lange, höchstens noch eine halbe Stunde, dann würde der Muezzin von der Spitze des Minaretts den Weckruf der Gläubigen verkünden. Beatrice wandte sich vom Fenster ab und begann sich zu waschen und anzukleiden. Heute musste sie endlich ein Mitglied der Familie um Hilfe bitten. Vielleicht Yasmina. Zwischen ihnen hatte sich in den vergangenen Tagen eine tiefe Freundschaft entwickelt. Sie würde sie sicherlich am ehesten verstehen können. Ja, sie würde Yasmina fragen. Später. Zuerst würde sie sich jedoch ihrer täglichen Visite bei Assim widmen.
Die Stimme des Muezzins war kaum verklungen, als Beatrice auch schon vor Assims Zimmertür stand. Natürlich verschleiert. Das gehörte sich eben so, wenn man als weiblicher Gast beabsichtigte, den Männern des Hauses unter die Augen zu treten. Allerdings hätte die Art ihrer Verschleierung wohl bei
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