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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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den meisten strenggläubigen Muslimen einen Sturm der Empörung ausgelöst. Der Schleier bestand nämlich nicht aus jenem schweren dunklen, absolut blickdichten Wollstoff, wie sie ihn aus Buchara kannte, sondern aus seidener Spitze, fein und zart wie Spinnweben. Er war so durchsichtig, dass er eigentlich mehr enthüllte als verbarg. Ihn zu tragen war im Grunde genommen eine Farce, weil er ihr Gesicht keinesfalls vor den Blicken der männlichen Hausbewohner versteckte, doch er war schön. Er war sogar so schön, dass Beatrice ihn jeden Morgen gern anlegte. Am Tag ihrer Ankunft hatte Maleks Mutter ihr diesen Schleier geschenkt und ihr erklärt, wie sie sich verhalten musste. Seit Mahmud ibn Subuktakin Herrscher in Gazna war, galt das Verschleierungsgebot in der Stadt überall - sogar im eigenen Haushalt. Das stehe angeblich im Koran. Allerdings hatte ein findiges Mitglied der Familie entdeckt, dass der große Prophet ganz offensichtlich vergessen hatte, genauere Angaben zu der Beschaffenheit dieses Schleiers zu machen. Nur wenn die Frauen das Haus verlassen wollten, mussten sie den in Gazna üblichen dunklen, schweren und bodenlangen Schleier tragen, um in der Öffentlichkeit kein Aufsehen zu erregen. Und wegen der strengen Sitten durften sie außerhalb des Hauses nicht einmal ein Wort über die Interpretation des Korans in der Familie verlieren. Wären diese skandalösen Zustände im Palast bekannt geworden, man hätte vermutlich nicht gezögert, alle Angehörigen der Familie, Männer wie Frauen, schwer zu bestrafen. Beatrice war zwar erst seit zehn Tagen in Gazna, doch so viel hatte sie schon begriffen - der Emir war ein religiöser Fanatiker, der sich an jeden einzelnen Buchstaben des Korans klammerte, nur seine eigene Auslegung für gültig hielt und Andersdenkenden weder Sympathie noch Verständnis entgegenbrachte. Kein Wunder also, dass sich die Fidawi Gazna als Schlupfwinkel ausgesucht hatten. Hier lebten sie unter Gleichgesinnten.
    Beatrice öffnete die Tür und betrat leise Assims Zimmer. Sie war nicht überrascht, als sie Malek sah. Wie jeden Morgen seit ihrer Ankunft in Gazna stand er am Fußende des Bettes und blickte nachdenklich auf seinen schlafenden Bruder hinab. Vermutlich hatte er auch diese Nacht wieder bei ihm Wache gehalten.
    »Er schläft so tief und fest«, sagte er leise, als Beatrice auf Zehenspitzen neben ihn trat. »Selbst der Weckruf des Muezzins ist spurlos an ihm vorübergegangen.«
    »Das habe ich gehofft«, flüsterte Beatrice zurück. »Aus diesem Grund habe ich ihm noch am späten Abend ein Schlafpulver gegeben. Das reglose Liegen könnte ihn auf Dauer ungeduldig und reizbar machen. Und wenn er schläft, verliert er wenigstens nicht seine Beherrschung.«
    »Wie lange muss mein Bruder noch auf diese Weise das Bett hüten?«
    Beatrice zuckte mit den Schultern. Zu Hause hätte sie anhand der Röntgenbilder eine eventuell vorhandene OP-Indikation feststellen und die Frakturen mit einer Plattenosteosynthese versorgen können. Oder das Ganze hätte sich als nicht so schlimm entpuppt, und sie hätte dem Jungen ein Stützkorsett verpasst. In beiden Fällen wäre Assim bereits wieder auf den Beinen gewesen und würde, unterstützt von einem Physiotherapeuten, Bewegungsübungen im Wasser machen. Doch sie war nicht zu Hause. Und aus diesem Grund lag Assim in einem improvisierten, mit Tüchern abgepolsterten Gipsbett aus Lehm, unbeweglich von den Schultern an abwärts.
    »Sechs bis acht Wochen«, sagte sie. »Sofern er Glück hat. Ich rechne jedoch eher mit zehn.«
    »Noch zehn Wochen?« Malek starrte sie entgeistert an und vergaß beinahe, leise zu sprechen. »Bei Allah! Wie soll Assim das denn aushalten? Heute ist erst der fünfzehnte Tag. Wäre ich an seiner Stelle, müsstest du mich am Bett festketten oder mich bewusstlos schlagen. Ich wäre schon längst verrückt geworden. Gibt es wirklich keinen anderen Weg zu seiner Heilung als dieses unerträgliche stille Liegen?«
    Beatrice schüttelte den Kopf. Nein, es gab keine Alternative, nicht hier, nicht im Mittelalter. Wenigstens hatte sie bisher keinen Grund zur Sorge. Täglich prüfte sie Assims Tast- und Wärmeempfinden und die Beweglichkeit von Armen und Beinen - so weit sie bereit war, Bewegungen ohne hilfreiche Röntgenkontrollen und die Möglichkeit einer Notoperation zu riskieren. Über Assims Wirbelsäulenfraktur wusste sie schließlich nur, was sie getastet hatte. Wie die Bruchkanten genau verliefen, wie groß die Gefahr für das

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