Das Auge der Fatima
der Wahrheit? Ihr wollt die Wahrheit doch gar nicht wissen. Ihr sucht nur nach einer bequemen Erklärung, einer Antwort, die sich nahtlos in Eure Lebensanschauung einfügt, ohne dabei Euren eigenen Ideen zu widersprechen. Aber solch eine Antwort kann und will ich Euch nicht geben. Dabei geht es nicht einmal um religiöse Überzeugungen. Es geht lediglich um die Bereitschaft, seinen Geist und seine Seele auch für das Unbekannte, Ungewöhnliche zu öffnen. Und so Leid es mir auch tut, die Angst davor kann ich Euch nicht nehmen.« Er machte eine Pause und schnappte nach Luft. Dann fuhr er deutlich ruhiger fort: »Ja, Ihr habt Angst, Ali al-Hussein. Ihr habt erbärmliche Angst. Ihr fürchtet, dass die Wahrheit Euer Weltbild, das Ihr Euch so mühevoll in all den Jahren zusammengetragen habt, zum Einstürzen bringen könnte. Deshalb verschließt ihr lieber die Augen vor allem, was Euren eigenen, beschränkten Horizont überschreiten könnte. Ich weiß, Ihr wollt das von mir nicht hören. Ihr seid schließlich ein >Gelehrter<, der die Werke aller Philosophen gelesen und vielleicht sogar verstanden hat. Euer Geist ist ja angeblich so frei und unabhängig, Euer Verstand so scharf, dass Ihr Euch nicht einmal mehr an jene Glaubens- regeln zu halten braucht, die Euch als Kind gelehrt wurden. Doch in Wahrheit unterscheidet Ihr Euch in keiner Weise von denen, die Euch in ihrer eigenen Engstirnigkeit als Gotteslästerer bezeichnen und deswegen verfolgen.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Ali al-Hussein, aber ich kann Euch nicht helfen. Wenigstens jetzt noch nicht. Kommt wieder, wenn Ihr dazu bereit seid.«
Alis erste Regung war, etwas zu entgegnen, sich gegen die infamen, haarsträubenden Anschuldigungen des alten Juden zu verteidigen, doch dann siegte sein Stolz. Abrupt drehte er sich um und ging zur Tür. Was sollte er diesem greisen Kerl sagen? Weshalb sollte er sich gegen diese Beschimpfungen zur Wehr setzen? Hatte er das nötig? Nein. Er war Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, ein Gelehrter, ein Wissenschaftler, der Leibarzt des Emirs. Während andere Jungen seines Alters auf den Straßen gespielt hatten, hatte er allein in seiner Kammer über den Büchern gesessen und studiert - Mathematik, Philosophie, Medizin, Astronomie. Er hatte sein Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt und bereits als Jüngling mehr gewusst als alle seine Lehrer zusammen. Und jetzt sollte er sich von diesem Juden beleidigen lassen? Nein. Er würde schon noch eine glaubhafte, überzeugende Erklärung für oder gegen die Existenz und das plötzliche Auftauchen und Verschwinden dieses seltsamen Sternbildes finden. Auch ohne die Hilfe eines Moshe Ben Maimon.
An der Tür stieß Ali um ein Haar mit Isaak zusammen, der gerade mit einem Tablett mit Speisen und Wein zurückkehrte. Der junge Mann warf Ali einen überraschten Blick zu und sah dann seinen Herrn fragend an.
»Unser Gast will bereits gehen, Isaak«, sagte der alte Jude hinter Alis Rücken. »Leider. Bitte, geleite den Leibarzt des Emirs zur Tür.«
»Spart Euch die Mühe«, erwiderte Ali über die Schulter hinweg. »Den Weg finde ich auch allein.«
Mit langen Schritten eilte er die Treppe hinunter durch den Garten. Voller Zorn warf er die Tür hinter sich zu, froh, endlich dem Haus des Juden entronnen zu sein. Wie konnte Moshe Ben Maimon es wagen, ihn derart zu beleidigen? Ein vermutlich schon seniler Greis, den die Gicht an sein Haus fesselte und der es noch nicht einmal wagte, unter seinem wahren Namen in der Öffentlichkeit aufzutreten, wollte ihn belehren? Das war einfach lächerlich. Ali schäumte vor Wut. Die Stimme des Alten hallte in seinem Kopf nach, und die Verleumdungen brannten in ihm, als hätte man ihm ein glühendes Eisen auf seine Stirn gepresst. Nicht einmal dem kalten Nachtwind gelang es, seine Wangen zu kühlen. Doch am wütendsten war Ali über sich selbst. Deutlich hörte er die Enttäuschung, die in den zornigen Worten des alten Juden mitgeschwungen hatte. Und eine leise, eindringliche Stimme tief in seinem Innern sagte ihm Dinge, die er eigentlich nicht hören wollte: Hatte Moshe Ben Maimon vielleicht sogar Recht mit seinen Anschuldigungen? Ein Gelehrter, ein Wissenschaftler musste stets bereit sein, seine eigenen Lehren und Überzeugungen zu überdenken, abzuändern oder gar fallen zu lassen, um sie zu verbessern und den eventuell neu hinzugewonnenen Erkenntnissen anzupassen. War er dazu wirklich nicht bereit? Fürchtete er sich etwa tatsächlich
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