Das Auge der Fatima
dass sogar sein Schnarchen zu hören war. Die meisten anderen Wartenden standen unschlüssig herum oder gingen unruhig auf und ab und unterhielten sich nur in gedämpftem Flüsterton - die Luft schien vor Spannung und Nervosität zu knistern. Trotzdem war Beatrice der festen Überzeugung, dass niemand hier im Saal aufgeregter war als sie.
In der Nacht, als Malek ihr seinen Vorschlag unterbreitet hatte, hatte sie voller Begeisterung zugestimmt. Es war ein exzellenter Plan, gut durchdacht und sicherlich die einzige Möglichkeit, mehr über Michelle und Ali al-Hussein herauszufinden. Dieser Meinung war sie wenigstens noch in der Nacht gewesen. Und auch Yasmina, die als einziger Mensch außer Malek noch von dem Plan wusste, war dieser Meinung gewesen. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Ihr Blut rauschte in den Ohren, ihre Hände zitterten, und ihre Zunge ließ sich kaum noch vom Gaumen lösen, als ob sie dort mit Alleskleber befestigt worden wäre. Sie hatte so wenig Speichel im Mund, dass es in ihrem Hals und ihren Bronchien kratzte und sie sich unentwegt räuspern musste.
»Malek«, flüsterte sie. Ihre Stimme bebte in einem Anfall von Panik. Und dann wurde aus dem Kratzen in ihrem Hals ein trockener, quälender Reizhusten, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Wie sollte sie so vor den Emir treten? Sie würde kein Wort hervorbringen können. »Das wird niemals funktionieren. Vielleicht sollten wir doch lieber ...«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Malek erstaunt zurück. »Sieh dich doch um. Wir fallen überhaupt nicht auf.«
Unruhig schaute Beatrice sich um. Tatsächlich starrte niemand sie an. Alle Anwesenden waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber da ... In einer Ecke stand eine tief verschleierte Frau, die sie plötzlich ansah. Doch im selben Moment senkte sie auch schon ihren Blick. Vermutlich irrten die Augen der Frau ebenso ziellos im Raum umher wie ihre eigenen, verzweifelt auf der Suche nach einer Ablenkung von der steigenden Nervosität. Dass sich ihre Blicke begegnet waren, war ein Zufall. Nichts anderes. Oder etwa doch nicht?
»Aber die Frau dort drüben, die hat ...«
»Unsinn, du bildest dir nur etwas ein«, sagte Malek energisch. »Es läuft alles nach Plan.« Er legte ihr aufmunternd eine Hand auf den Arm, aber sein Gesicht blieb ernst. »Kopf hoch. Denke immer daran, weshalb du das tust. Denke an deine Tochter - und die Gefahr, in der sie schwebt.«
Beatrice hustete, versuchte zu schlucken, irgendwie einen Tropfen Feuchtigkeit in ihre kratzende, ausgedörrte Kehle zu bringen und nickte. Sie versuchte sogar zu lächeln. Vermutlich sah sie dabei wesentlich tapferer aus, als sie sich zurzeit fühlte. Dann wanderte ihr Blick wieder zu dem Boten. Der Mann schlief immer noch. Die Nachricht für den Herrscher musste dringend sein, wenn er sich noch nicht einmal die Zeit genommen hatte, sich seiner schmutzigen Kleidung zu entledigen. Ob er einer jener Boten war, die nach Michelle suchen sollten? Ausgeschlossen war es nicht. Falls er sie oder eine Spur von ihr gefunden hatte, dann musste sie es erfahren. Und dafür gab es nur einen Weg. Unwillkürlich straffte sie die Schultern und hob das Kinn. Malek hatte Recht, sie musste das hier durchstehen. Für Michelle.
In diesem Augenblick trat ein Diener zu ihnen.
»Verehrter Malek al-Said ibn Tariq«, sagte er und verneigte sich leicht. »Unser edler Herrscher, Mahmud ibn Subuktakin, Flerr von Gazna und Beschützer der Gläubigen, erweist Euch die Gnade, Euch jetzt zu empfangen.«
Malek nickte. Beatrice fühlte, wie ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte. Trotz ihrer vor kaum einer Sekunde ge- fassten Vorsätze wurden ihre Knie weich, und der Boden gab unter ihr nach, als bestünde er aus einem besonders weichen Schaumstoff. Zuletzt hatte sie sich so gefühlt, als sie zum ersten Mal allein für eine große Operation verantwortlich war, und das war schon etliche Jahre her. Im Nachtdienst war ein Mann mit einem Magendurchbruch eingeliefert worden. Alle anderen erfahrenen Kollegen - inklusive Oberarzt und Chef- waren mit zwei Schwerstverletzten beschäftigt gewesen. Als der Patient dann auch noch begonnen hatte, im Schwall Blut zu spucken, hatte sie nicht mehr auf die anderen warten können. Mit weichen, zittrigen Knien war sie in den OP gewankt. Trotzdem hatte sie es damals geschafft, ihre Angst zu überwinden, und die erforderliche Magenteilresektion allein durchgeführt. Mit Erfolg, der Patient hatte überlebt. Jetzt war die
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