Das Auge der Fatima
Sachlage natürlich eine andere. Doch die Konsequenz war ähnlich - sie war Michelles einzige Chance. Und wenn sie es einmal fertig gebracht hatte, ihre Angst und Nervosität zu besiegen, so sollte sie es jetzt auch können. Erst recht für ihre Tochter.
Beatrice straffte erneut die Schultern, hob ihr Kinn und nickte Malek zu. Dann folgten sie gemeinsam dem Diener durch die große Doppeltür in den angrenzenden Saal.
Der Thronsaal war in seiner Ausstattung kaum weniger schlicht als der Wartesaal, aus dem sie gerade kamen. Nur vereinzelte, wenn auch ohne Zweifel sehr kostbare Teppiche bedeckten den Boden. Die Wände wurden von schönen, in allen erdenklichen Farben glasierten Kacheln geschmückt, auf denen in goldenen Buchstaben Worte standen, von denen Beatrice nur vermuten konnte, dass es sich um Zitate aus dem .Koran handelte. Beim Anblick dieser Schriftzeichen erlitt Beatrice eine erneute Panikattacke. Selbst wenn Maleks Plan gelingen sollte und Subuktakin sie tatsächlich an seinem Hof aufnahm, würden diese Schriftzeichen sie früher oder später in Verlegenheit bringen. Irgendwann würde man nämlich von ihr verlangen, etwas vorzulesen. Und dann würde man merken, dass sie die arabische Schrift gar nicht lesen konnte. Was sollte sie dann tun? Wie sollte sie sich da herausreden?
Warte es doch erst einmal ab!, versuchte ihre innere Stimme sie zu beruhigen. Wenn es so weit ist, wird dir schon etwas einfallen. Dir ist bislang immer etwas eingefallen.
Allerdings hatte sie sich nie zuvor in ein derart großes Wagnis gestürzt. Es gab so viele Dinge, die schief gehen konnten, so unendlich viele Fallstricke.
Die gab es auch, als du Nuh II. das Nasenbein gebrochen hast, widersprach energisch ihre innere Stimme.
Ja, doch das war etwas anderes. Damals in Buchara hatte sie im Affekt gehandelt. Sie hatte gar keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Aber hier ... Beatrice schnappte mühsam nach Luft. Schon spürte sie das leichte Kribbeln in den Fingerspitzen, das typische erste Anzeichen für eine Hyperventilation. Sie mahnte sich zur Ruhe und zwang sich, einen Augenblick lang die Luft anzuhalten. Hier direkt vor seinen Augen zusammenzubrechen würde bei Subuktakin auf keinen Fall den Eindruck hinterlassen, den sie eigentlich erwecken wollte. Da vorne, in etwa zwanzig Meter Entfernung, stand der Thron. Dort musste sie hin. Das konnte doch nicht so schwer sein, es waren schließlich nur zwanzig Meter. Aber ihre Füße schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden, und eine unsichtbare Macht zog sie unerbittlich zurück zur Tür, zurück zum rettenden Ausgang, zurück in die Freiheit. Nur weg von hier! Aber es war bereits zu spät.
»Kommt schon!«, rief eine scharfe, ungeduldige Stimme. »Ich gestatte euch, euch zu nähern.«
Malek gab ihr einen freundschaftlichen Stoß in den Rücken und schob sie vorwärts. Gemeinsam durchquerten sie den Saal, bis sie etwa drei Meter vom Thron entfernt stehen blieben. Bevor sie sich tief verneigten, warf Beatrice einen kurzen Blick auf den Herrscher. Subuktakin war ein hagerer Mann mit einer scharf gebogenen Nase, die aussah wie ein Geierschnabel. Er trug makellose weiße Kleidung wie ein Mekkapilger und saß steif und reglos auf seinem Thron. Nur seine tief liegenden, dunklen, unablässig umherwandernden Augen verrieten, dass er ein Wesen aus Fleisch und Blut war und keine Marmorstatue. Sein langer gepflegter grau melierter Bart reichte ihm bis zur Brust. Beatrice wusste zwar nicht, ob es im Koran genaue Maßangaben für die Länge männlicher Bärte gab, doch sollte es sie geben, so war sie sicher, dass dieser Bart die geforderte Länge nicht um einen einzigen Millimeter über- oder unterschritt. Subuktakin machte eher den Eindruck eines Geistlichen denn eines Herrschers, ein Asket, der allen fleischlichen Genüssen entsagt hatte. Mit Nuh II., dem genussfreudigen Emir von Buchara mit seinem ausschweifenden Lebenswandel, ließ er sich auf gar keinen Fall vergleichen.
»Seid gegrüßt, Mahmud ibn Subuktakin, edler Herrscher und Beschützer der Gläubigen von Gazna. Allah sei gepriesen und möge Euch ein erfülltes und gesundes Leben schenken, reich an Jahren, Glück und Zufriedenheit.« Malek verneigte sich noch tiefer. »Ich danke Euch für die Gnade, mich zu empfangen, Euren untertänigen Diener Malek al-Said ibn Tariq, und biete Euch diesen Teppich zum Geschenk und als Beweis der Hochachtung meines Vaters, Eures untertänigen Dieners, an.«
Malek rollte vor dem Thron einen
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