Das Auge der Seherin
Dunkelheit über einen schmalen Weg geflogen war. Jetzt war helllichter Tag. Die Sonne stand hoch am Himmel. Das Pferd war nirgends zu sehen. Vor ihr erstreckte sich rauschend das Gras der endlosen Ebene. Das Pferd war wahrscheinlich auf der Suche nach Futter vom Weg abgekommen. Sie hatte tagelang nicht geschlafen und war wie betäubt vom Pferd geglitten. Sie hatte kostbare Stunden verloren. Landen konnte schon tot sein.
Sie stand auf. Im Osten erhob sich die Bergkette des Cheldangebirges. Sie befand sich inmitten der wilden Ebene von Archeld, die nahezu unbewohnt war. Nur Tiere streiften hier umher, die jetzt, zur Schonzeit im Frühling, nicht gejagt wurden. Hier war sie auf ihrer
Flucht vor Vesputo durchgekommen. Damals war es schon mühsam gewesen, obwohl sie auf Amber, dem Pferd des Königs, geritten war. Jetzt war sie ganz allein. Torina ermahnte sich weiterzugehen. Sie wandte sich nach Westen und rannte los. Salzige Tränen netzten den Boden.
14. Kapitel
Emid saß in seiner Stube in einer der Baracken von Archeld und betrachtete nachdenklich seine Festtagsuniform. Er hatte den Befehl erhalten, mit seinen Schützlingen der Hinrichtung von Landen beizuwohnen, der für die Ermordung König Kareeds mit dem Tod büßen sollte. Die öffentliche Enthauptung sollte in den frühen Abendstunden stattfinden. Der Schlosshof würde voller Soldaten sein
Emid musste wieder einmal einen verhassten Befehl ausführen. Die Furchen in seinem Gesicht waren im Lauf der Jahre, die er im Dienst Vesputos stand, immer tiefer geworden. Oft sagte er sich, dass er seinen Dienst nur um der Königin Dreea und der abwesenden Prinzessin willen ausübte. Wenn Vesputos Soldaten schon von ihm ausgebildet werden mussten, so wollte er ihnen wenigstens ein lebendiges Bild der Prinzessin vermitteln. Aber die Jahre vergingen, ohne dass Torina ein Lebenszeichen von sich gegeben hätte. Vielleicht war es ein Fehler zu glauben, sie lebe. Ein Mann wie Vesputo ging kein Risiko ein.
Dreea bewegte sich wie ein Geist im Schloss von Archeld. Sie lebte gottesfürchtig und zurückgezogen und ließ sich nur noch zu wohltätigen oder hochoffiziellen Anlässen blicken. Die Leute erzählten, Vesputo wolle bald wieder heiraten und eine neue Dynastie gründen. Über drei Jahre schon kämpfte Emid mit seinem Gewissen. Eine innere Stimme empörte sich immer und immer wieder über die Einschnitte in die Rechte der Bürger von Archeld. Gewiss, die Wirtschaft des Landes florierte, aber die schwer arbeitende Bevölkerung war verängstigt. Manchmal verschwanden Menschen ohne Erklärung.
Und ich tu, was ich immer getan habe - ich bilde die Jungen zu Soldaten des Königs aus. Als wäre das Land noch dasselbe und was ich tue, immer noch das Richtige. Und jetzt eine öffentliche Enthauptung. Niemand hatte gesehen, wie Landen den König ermordete. Sicher, Motive hatte er genug - Kareed hatte seinen Vater getötet, sein Königreich besetzt und das legendäre Schwert geraubt. Und doch weiß ich tief in meinem Herzen, dass er unschuldig ist.
Emid bewegte sich wie ein alter Mann, als er sich ankleidete. Während er seinen kurzen Dolch in die Scheide steckte, überlegte er, ob er die Klinge gegen sich selbst richten sollte.
Schweigend überließ sich Dreea Amiles sanften Händen, die ihr das weiße Haar aufsteckten. Vergeblich hatte die Königin gebeten, der Hinrichtung Landens fernbleiben zu dürfen. Sie sollte direkt hinter dem König auf der Tribüne sitzen, wenn Landen enthauptet wurde. Dreea wollte nicht an die Ermordung ihres Mannes erinnert werden. Nach dem Tod Kareeds hatte Torina jeglichen Kontakt mit ihrer Mutter verweigert. Beide Geschehnisse hatten schlimme Narben auf ihrer Seele hinterlassen und es erschien ihr noch immer unerträglich, dass sie Kareed niemals mehr umarmen noch ihre Tochter sehen oder sprechen konnte. Mit unverminderter Hartnäckigkeit glaubte sie, dass Torina lebte. Irgendwo war ihr ungestümes Mädchen zu Hause.
Und heute? Heute sollte der junge Mann sterben, dem Kareed so bitteres Unrecht angetan hatte. Dreea hätte sich diesen Anblick lieber erspart, doch Vesputo war unerbittlich. Sie war die Königin. Sie musste dabei sein. Dreea faltete die Hände zum Gebet. Sie hielt Zwiesprache mit Gott, bis ein Soldat erschien und sie nach draußen geleitete. Der junge Mann verhielt sich ehrfurchtsvoll und zurückhaltend. Er kam ihr bekannt vor, doch sie erinnerte sich nicht an seinen Namen. „Zeon", antwortete er auf ihre Frage, und sie rief
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