Das Auge der Seherin
„Tatsächlich? Auf Verrat steht Tod", erwiderte Dahmis. Beron zuckte zusammen. „Verrat? Wovon sprecht Ihr, mein König?"
„Dreht Eure Ärmel um. Und wagt nicht zu fliehen. Vor der Tür steht eine Hundertschaft Soldaten, bereit, ihre Waffen an Euch zu erproben."
Von plötzlicher Schwäche überfallen, rutschte Beron tiefer in seinen Sessel. Woher wusste Dahmis? Prinzessin Torina war tot. Oder etwa nicht? Wer hatte Dahmis das verraten? Wer hatte sein Leben auf dem Gewissen? Als General Larseid ihm das Hemd herunterriss und die Giftfläschchen herausschüttelte, wollte Beron den Mund aufmachen und den König nach Torina fragen. Aber er brachte kein Wort über die Lippen. Er beobachtete, wie das Gift in seinen Wein gerührt wurde. Es hätte gereicht mehrere Männer seiner Größe umzubringen.
General Larseid reichte ihm den Becher. „Trink", befahl er.
Beron schwankte. Sollte er den Wein dem König ins Gesicht schütten und Larseid niederschlagen? „Diese Männer dort draußen sind gern bereit, Euch den
Wein mit Gewalt einzuflößen", sprach Dahmis. „Oder Ihr trinkt ihn freiwillig und behaltet einen Rest Würde."
Das Gift wirkt langsam. Vielleicht wirkt es schneller bei dieser Menge, die sie mir verabreichen.
Benommen griff Beron nach dem Becher. Ohne Widerstand trank er den Wein.
Torina stieß auf eine Straße. Sie überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Die Straße führte von Norden nach Süden, sie aber wollte nach Westen. Um die Kurve kam gemächlichen Schrittes ein edles, gepflegtes Pferd. Sein Reiter, ein vornehmer junger Mann, hatte Pfeil und Bogen geschultert. Er beachtete Torina nicht, bis sie ihm in den Weg trat und die Hand hob. Er machte Halt und sah sie anzüglich an. Sie spürte seinen Blick, mit dem er ihre verschlissene Kleidung, ihr gerötetes Gesicht und ihr schäbiges Kopftuch musterte. „Guten Tag", sagte sie, „wisst Ihr den Weg nach Archeld?" Torina streichelte die Mähne des Pferdes, um ihre Nervosität zu unterdrücken.
Der junge Mann zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. Torina wehrte sich innerlich gegen seine Verachtung. „Ich heiße Vineda, und wie heißt Ihr?" „Samed", antwortete er, als sei er gewohnt, mit seinem Namen auf offene Türen zu stoßen. „Würdet Ihr mir bitte das Pferd leihen?", fragte sie und streichelte die Nase des Tieres. Samed schnaubte. „Ihr scherzt."
„Bitte, bringt mich wenigstens ein Stück meines Weges." Samed grinste sie ungläubig an.
„Einen schönen Bogen habt Ihr", fuhr Torina fort. „Seid
Ihr ein guter Schütze?"
„Ein sehr guter sogar."
„Ich kann besser schießen als Ihr."
„Ha!"
„Bestimmt."
Der junge Mann stieg jäh vom Pferd und nestelte den
Bogen ab. „Das musst du mir zeigen."
„Nein, nein. Erst müssen wir wetten. Ich wette um Euer
Pferd und den Bogen, dass ich besser schießen kann als
Ihr."
„Ein hoher Einsatz, Fräulein. Und was setzt Ihr auf die Wette?"
Was hatte sie schon? Da war der Stein von Dahmis, ein Stück von unschätzbarem Wert, aber wie sollte sie Samed das verständlich machen? Außerdem war er unverkäuflich.
Sie griff in ihre Tasche und ertastete den Kristall. Als sie ihn hoch hielt, spiegelte sich die Sonne in seiner Tiefe und sie verspürte einen heftigen Schmerz bei dem Gedanken, ihn fortzugeben. Aber er war alles, was sie besaß, und er war zweifellos sehr wertvoll. Samed machte einen Schritt nach vorn und musterte ihren Körper wie ein Stück Vieh.
„Nein, meine Dame. Edelsteine habe ich genug. Nein." Er kam noch näher heran. „Die Wette könnt Ihr vergessen, außer Ihr setzt Euch selbst als Preis aus", sagte er lüstern.
Sie selbst! Torina steckte die Kristallkugel wieder ein, ihr Herz klopfte. Er schien sich seiner Sache gewiss. Und wenn er wirklich ein guter Bogenschütze war? Sie hatte seit Jahren keinen Bogen mehr angerührt. „Das ist ein hoher Einsatz", sagte sie mit bebender Stimme. „Vielleicht könntet Ihr doch noch Eure Meinung ändern und mich aus reiner Herzensgüte bis zur Stadt bringen."
Der junge Mann sah sie nur an und lächelte ablehnend. „Da Ihr kein Herz habt, geschieht es Euch Recht, wenn Ihr Euer Pferd verliert. Nun gut, ich wette um mich gegen Euer Pferd und Euren Bogen.“
13. Kapitel
An einem abgelegenen Stützpunkt, in der Nähe des Dreiländerecks von Desante, Glavenrell und Archeld saßen einige Grenzposten beim Kartenspiel. Equan, der erst seit kurzem im Dienst von König Dahmis stand, hatte ein besonders gutes
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