Das Auge der Seherin
als er von Soldaten umringt wurde. Von sechs Soldaten gepackt wurde der unbekannte Schütze zur Tribüne geschleift. Den Kopf unter der großen, fremdländisch aussehenden Mütze hielt er gesenkt. Ein Arzt eilte die Stufen zur Tribüne hinauf. „Mein König", hörte Dreea ihn sagen, „wir müssen ins Schloss, um den Pfeil zu entfernen und die Wunde zu versorgen."
Vesputo knirschte mit den Zähnen. „Ich bleibe hier. Ich möchte mir den Kerl anschauen, der mich fast ermordet hat, und die Hinrichtung zu Ende bringen." Der Arzt winkte Zeon herbei und befahl ihm, die Schulter des Königs festzuhalten. Vesputo stöhnte, als der Pfeil herausgezogen wurde. Die tiefe Wunde blutete stark und der Arzt begann sie zu pressen, um die Blutung zu stillen.
Eine neue Unruhe ging durch die Menge. Bürger, die außerhalb der Hofmauern standen, riefen und zeigten zur Straße. Dreea sah eine Staubwolke, die rasch näher kam. Die Soldaten mit dem jugendlichen Attentäter blieben stehen, sahen sich um und versuchten, durch die Menge hindurch etwas zu erkennen. Einen Augenblick später ritt ein Mann mit einer tiefen Gesichtsnarbe die Stufen zum Schlosshof hinauf.
„Platz da!", schrie er. „Platz da für den Oberkönig!" Die Soldaten gehorchten, gaben den Weg frei und drängten sich dicht zusammen.
Vom Ende des Schlosshofs bis zur Tribüne bildete sich ein breiter Gang. Die Menschen verstummten, nur hier und da war ein ehrfürchtiges Murmeln zu hören. In staubiger Reisekleidung, das buschige Haar verschwitzt und strähnig, ritt König Dahmis heran. Die Soldaten verneigten sich, einige jubelten ihm zu. Der Kopf seines mächtigen Schiachtrosses war schon bald auf gleicher Höhe mit dem Tribünenaufbau.
Der Oberkönig schien alles mit einem einzigen Blick zu erfassen. „Verwundet?", fragte er. „Dieser Ort stinkt nach Verrat, König Vesputo."
Vesputo blieb ruhig, konnte seinen Zorn jedoch kaum verbergen. „Euch habe ich nicht erwartet, mein König." Der Oberkönig ließ seinen Blick zum Schafott schweifen, wo Landen taumelnd versuchte, sich aufrecht zu halten.
„Ich habe gehört, dass der Krieger Bellanes hier gefangen gehalten wird", verkündete Dahmis. „Wie ich sehe, wurde ich richtig informiert." Verwirrt starrte Dreea auf Dahmis.
Vesputos markante Züge verzerrten sich, er wurde leichenblass. „Bellanes? Unmöglich!"
„Warum soll dieser Mann hingerichtet werden, der die Sliviiter besiegt und uns vor Tod und Hunger bewahrt hat?", fragte der Oberkönig weiter.
Dreea spürte die Verwirrung und die Aufregung, die die Menschen wie im Sturm ergriffen. Vesputo schüttelte nur den Kopf.
„Ihr kennt diesen Gefangenen unter dem Namen Bellanes?", fragte er unsicher.
,Ja. Er und kein anderer. Dieser Mann, den Ihr in Ketten gelegt habt, hat mein Leben und das Leben Tausender gerettet."
„Ich kenne ihn unter einem anderen Namen!", erwiderte Vesputo. „Er hat ein Verbrechen begangen, das einen viel schlimmeren Tod als die Enthauptung verdient. Seit Jahren habe ich ihn wegen des Mordes an König Kareed suchen lassen. Sein Name ist Landen." „Landen?" Der Oberkönig klang überrascht und ehrfurchtsvoll. „Der Prinz von Bellandra?" Vesputo schnaubte verächtlich, während Soldaten den jungen Attentäter zur Tribüne schleppten. „Wer ist das?"
„Der Attentäter, der mich verwundet hat", antwortete Vesputo.
Dreea bemerkte seinen Blick zum Henker, seine Geste, wie ein schneller, kurzer Schlag. Der Mann fasste Landen am Kopf, um ihn auf den Richtblock zu legen. „Halt!", rief sie, ihre Stimme ging im Gebrüll des Oberkönigs unter.
„Halt! Ich verbiete, diesen Mann zu töten! Wer ihn berührt, muss sich vor mir verantworten!" Der Henker sah zögernd von einem König zum anderen. Vesputo schien einer Ohnmacht nahe, sein Gesicht sah erschreckend weiß aus. Der Oberkönig dagegen strahlte Macht und Würde aus. Der Henker trat zurück. Dahmis wandte sich an die Menge im Schlosshof. „Auf euren König wurde ein Mordanschlag verübt! Und ein anderer Mann wird des Mordes an dem früheren Herrscher, König Kareed, beschuldigt. Diese Beschuldigungen müssen von einem Gericht untersucht werden!" Die Menge brach in zustimmende Rufe aus. Dreea bemerkte, dass sich unten auf der Straße immer mehr Menschen ansammelten. Ihr schwindelte vor Erleichterung.
Bestimmt hört der Oberkönig mich an und gestattet mir, mit Landen zu sprechen.
Dahmis sprach nun den Gefangenen direkt an. „Ihr seid Prinz Landen von Bellandra?"
Die Stille, die
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