Das Auge der Seherin
sich jenen ausgelassen Jungen ins Gedächtnis, mit dem ihre Tochter oft gespielt hatte. Dieser ernste, stille Mann sollte Zeon sein? Die Königin seufzte.
Sie war dankbar für seine Unterstützung und trat mit ihm in den von Soldaten überfüllten Schlosshof hinaus. Die Stimmen der vielen Menschen erfüllte die Luft, der
Himmel wölbte sich wolkenlos und blau über ihnen, und fern am Horizont stand gleißend die Sonne. Die Menschenmenge teilte sich, um sie durchzulassen. Zeon führte Dreea die Stufen zur Tribüne hinauf, half ihr in einen Stuhl und stellte sich neben sie. Vesputo war nirgends zu sehen.
Dreea blickte über ein Meer von Männerköpfen, die aus den grünen Uniformen ragten. Alle standen sie nach Einheiten geordnet, ein Furcht erregender Anblick. Ganz vorn entdeckte sie Emid inmitten seiner Jungen, und hinter den breiten Mauern standen neugierige Bürger, die sich nicht auf den Schlosshof wagten, aber einen Blick auf den berühmten Verbrecher werfen wollten. Der Blick der Königin wanderte zum Schafott. Der Anblick des an Armen und Beinen gefesselten Gefangenen erschreckte sie. Dunkles, lockiges Haar hing wirr um sein erschöpftes Gesicht. Neben ihm standen Wächter mit gezückten Waffen. Unglücklich starrte Dreea den angeblichen Mörder ihres Gatten an. Er schien ihren Blick zu spüren und richtete seine gequälten Augen auf sie. Er leckte über seine aufgesprungenen Lippen. Es hatte den Anschein, als ringe er mit Worten. Dreea vermutete, dass er vor Durst nicht sprechen konnte.
„Zeon", sagte Dreea. „Ruft Emid zu mir." Zeon ging die Stufen der Tribüne hinab und holte seinen Ausbilder.
„Emid. Dieser Mann hat schrecklichen Durst." „Meine Königin?"
„Ich befehle Euch, dem Gefangenen Wasser zu geben." „Sehr wohl."
Emid gab den Befehl an einen Untergebenen weiter. Dreeas eigener Mund erschien ihr wie ausgetrocknet, während sie wartete. Der Ausbilder näherte sich dem Schafott. Sie beobachtete, wie er die Aufmerksamkeit des Wächters auf sich lenkte und wie dieser abweisend den Kopf schüttelte. Emid zeigte zu ihr hinüber, sie deutete eine höfische Verbeugung an. Emid erklomm die Stufen des Schafotts und führte den Becher an Landens Lippen.
Landen räusperte sich und versuchte wieder zu sprechen. Was wollte er ihr sagen? Als Emid herabstieg, beugte sie sich vor, aber das Gemurmel der Menge übertönte Landens Worte. Alles, was sie hörte, war das Brausen der vielen Stimmen.
Ein Horn ertönte, und Vesputo schritt durch die Reihen der Soldaten zur Tribüne. Mit der samtenen Königsrobe und der Krone auf dem Kopf gab er eine imposante Erscheinung ab. Er hob die Arme, das Horn verstummte, die Stimmen verebbten und Dreea sah noch immer zu Landen hin.
Der Gefangene gab ein Krächzen von sich, das kaum lauter als ein Flüstern war. „Am Leben!" meinte sie zu hören, dann legte einer der Wächter seine Hand auf Landens Mund und drückte ihn zu. Am Leben! Dreea suchte Emids Augen. Die Lippen des
Ausbilders waren nur mehr ein Strich. Hatte er es auch gehört? Wunderte er sich nicht, warum der Gefangene ausgerechnet der Frau des Ermordeten etwas sagen wollte? Wusste Landen etwas? Wollte er sagen, dass Torina noch am Leben war? Oder hatte er um sein eigenes Leben gefleht?
„Seit Jahren ist der Mord an König Kareed ungesühnt geblieben!", rief Vesputo. Er machte eine wirkungsvolle Pause und Dreea legte sich zurecht, was sie sagen wollte, wenn er geendet hatte. Irgendwie musste sie eine Gelegenheit finden, mit Landen zu sprechen. Als Witwe von Kareed hatte sie ein Recht darauf.
„Der Mörder eures Königs steht vor euch", fuhr Vesputo fort.
Ein Murmeln ging durch die Menge. Dreea fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Er wird es mir verweigern. Wenn ich ihm seinen Triumph zunichte mache, wird er mich vernichten. Und wer soll Torina dann willkommen heißen ?
Gequält sah die Königin auf Vesputos unversöhnliche Miene und flehte stumm ihren Gott um Hilfe an. „Die Strafe für Verrat..." Vesputo hielt plötzlich inne, atmete schwer und stürzte nach hinten. Aus seiner linken Schulter ragte ein Pfeil.
Wie betäubt sah Dreea den König niedersinken, sein grünes Gewand färbte sich blutrot.
„Schafft mir den Verräter herbei!", schrie er und fasste sich an die Schulter.
Soldaten marschierten bereits in geordneten Reihen auf eine Ecke des Schlosshofs zu. Oben auf der Mauer sah die Königin die Gestalt eines Jungen, der einen Bogen in der Hand hielt und gerade einen weiteren Pfeil anlegte,
Weitere Kostenlose Bücher