Das Auge der Seherin
Blatt in Händen. Er versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Diesmal würde er gewinnen. Einer der Grenzer erhob sich. „Nicht so schnell", sagte Equan.
„Schau doch", sagte der Mann und deutete auf den Felspfad, den sie bewachen sollten.
In raschem Tempo näherte sich ein Pferd, viel zu schnell für das unebene Gelände.
Equan legte seine Karten mit dem Gesicht nach unten. Der Reiter hielt mit geübter Hand sein Pferd mitten im Galopp an und ließ sich geschmeidig zu Boden gleiten. Equan staunte. Natürlich, der Reiter war eine Frau, doch wo hatte sie so gut reiten gelernt? Unter einem schmuddeligen Kopftuch sah ihnen ein wildes Gesicht entgegen. Am seltsamsten aber war der Bogen, der über ihrer Schulter hing.
„Wo bin ich hier?", fragte sie atemlos.
„Äh, mein Fräulein", erwiderte Equans Hauptmann,
„Ihr seid hier am Dreiländereck. Archeld, Desante, Glavenrell."
„Ihr tragt braune Uniformen. So dient Ihr dem Oberkönig?"
Jawohl, mein Fräulein."
„Gut. Dann überbringt ihm eine Nachricht von mir." Der Hauptmann lächelte nachsichtig. „Eine Nachricht an den Oberkönig. Von Euch?"
Mit zitternden Fingern nestelte sie eine rote Kordel von ihrem Hals. Der Hauptmann nahm sie und gab sie gleich wieder zurück. Auf seinem Gesicht zeichneten sich Verwirrung und Ehrfurcht ab. „Gewiss, meine Dame. Sagt, was Ihr benötigt." „Zuerst Wasser. Dann Schreibzeug, ein frisches Pferd und Männerkleidung." „Zu Befehl."
Andris saß auf einem Baumstumpf und säuberte sein makelloses Messer, um es zu schärfen, obwohl es frisch geschliffen war. Der Oberkönig hatte ihn wissen lassen, Bellanes sei in einer privaten Angelegenheit unterwegs und würde so bald nicht zurückkommen. Andris hatte ein ungutes Gefühl, was er sich aber nicht eingestehen wollte.
Ohne Bellanes war das Leben im Lager langweilig. Die einzige interessante Beschäftigung war die Ausbildung
von Cabis, dem ehemaligen sliviitischen Sklaven. Der Mann war schnell von Begriff und lernte leicht. Andris war zur Wache eingeteilt, eine ermüdende Aufgabe, weil niemand vorbeikam. Leise pfiff er vor sich in, prüfte die Schärfe der Klinge an seinem Daumennagel und hing so vertieft seinen Gedanken nach, dass er beinahe das schnelle Schlagen von Hufen überhört hätte. Mit dem Messer in der Hand erhob sich der riesige Mann. „Wer da?"
Jemand schrie: „Ich suche Andris!" Der Frühling hatte gründliche Arbeit geleistet. Die Zweige der umstehenden Bäume waren dicht belaubt. Andris konnte niemanden sehen. „Die Losung?", brüllte er.
„Der Frieden kommt!", kam die Antwort. König Dahmis trat hervor. „Mein Herr!"
Der Oberkönig sah erhitzt aus. „Bellanes ist gefangen. Ruf die Männer zusammen. Meine Truppe wartet schon. Wir müssen sofort los."
Landen erwachte vom Geräusch schlagender Türen. Er hob seinen dröhnenden Kopf. Er befand sich in einer Zelle. Eine Zelle mit einem schmalen Fensterspalt zum Schlosshof hinaus. Die untergehende Sonne warf einen roten Streifen auf den Fußboden. Landen lag auf der blanken Erde, seine Hände waren nach hinten gedreht und auf den Rücken gebunden, seine Füße waren an die Wand gekettet. Die meisten Kleider hatten sie ihm abgenommen.
Das Schwert von Bellandra ist mein Fluch. Mit seiner Hilfe wollte ich den bösen Tyrannen vernichten. Aber es hat mich wieder in seine Gewalt gebracht. Wieder bin ich Vesputos Gefangener und Bellandras Zauber ist unerreichbarer denn je. Sein ganzer Körper tat ihm weh, der Durst wurde zur Qual. Seit Tagen hatten sie ihm kein Wasser gegeben. Doch körperliche Schmerzen bedeuteten ihm nichts im Vergleich zu den Qualen, die er erduldete, wenn er an Torina dachte. Nach Jahren der Trennung hatten sie sich endlich in Liebe vereint, und nun war er dazu verdammt, sie zu verlassen. Er würde sie nicht wiedersehen, bis sie ihre Tage beendet hatte. Niemals mehr wandern wir über die Fluren, Niemals mehr lauschen wir dem Morgenlied der Vögel. Er schloss die Augen und in seiner Vorstellung tanzte er mit ihr durch sein verborgenes Paradies. Fast roch er den würzigen Duft der Tannen, sah die Wildblumen vor sich und spürte ihre Berührung.
Die Tür ging auf. Er stellte sich bewusstlos, bis ein Schwall Wasser sein Gesicht traf und er gierig die kostbaren Tropfen von seinen aufgerissenen Lippen leckte. Vesputo sah auf ihn herab. „Nun, gefällt Euch Eure Unterkunft?"
Landen stellte sich Torina an der kleinen Quelle vor und lächelte.
„Am liebsten würde ich Euch
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