Das Auge der Ueberwelt
als wir im Begriff waren, den Grund deiner Anwesenheit zu erfragen. Der Große Sandstrand sieht selten fremde Wanderer, und du scheinst ein weitgereister Mann zu sein.«
»Das ist richtig«, sagte Cugel, »und ich bin noch lange nicht am Ende meiner Reise. Seht hinauf: die Sonne beginnt schon nach Westen zu wandern, und heute abend möchte ich in der Nähe des großen Waldes sein.«
Eines der Muschelwesen hob die Arme und stellte ein feines Kleidungsstück zur Schau, das es aus Wasserfäden gewebt hatte. »Diese Kleidung bieten wir dir als Geschenk. Du scheinst ein feinfühlender Mann zu sein und wirst Schutz gegen Wind und Kälte brauchen.« Er warf das Kleidungsstück Cugel zu. Er betrachtete es eingehend und bewunderte die Schmiegsamkeit und den durchsichtigen Schimmer des Gewebes.
»Ich danke euch wirklich«, sagte er. »Dies ist eine unerwartete Großzügigkeit.« Er legte sich den Stoff über die Schultern, aber er wurde sofort wieder zu Wasser und Cugel wurde durchnäßt. Die vier in den Muschelschalen schrien laut vor übermütiger Freude, und als Cugel zornig näher kam, ließen sie ihre Schalen zuschnappen.
Cugel versetzte der Muschel, die ihm das vermeintliche Kleidungsstück zugeworfen hatte, einen kräftigen Tritt, prellte sich den Fuß und wurde noch wütender. Er ergriff einen schweren Felsbrocken und schlug auf die Muschelschale ein, bis sie zersplitterte. Er riß das quietschende Geschöpf heraus und schleuderte es auf den Strand hinauf, wo es liegenblieb und ihn aus großen Augen anstarrte. Der Kopf und die kleinen Arme gingen unmittelbar in bleiche Eingeweide über.
Mit schwacher Stimme fragte es: »Warum behandelst du mich so? Für einen Streich hast du mir das Leben genommen.«
»Das wird dich daran hindern, weitere Streiche zu verüben«, erwiderte Cugel ungerührt. »Sieh selbst, du hast mich bis auf die Haut durchnäßt!«
»Es war nur ein übermütiger Spaß; sicherlich nicht mehr als eine Kleinigkeit.« Die Stimme des Muschelwesens wurde rasch schwächer. »Wir von den Meeresklippen wissen wenig von Magie, doch ist mir die Macht gegeben, zu verfluchen, und dies verkünde ich jetzt: Mögest du deinen Herzenswunsch verlieren. Du sollst dessen beraubt sein, ehe seine Erfüllung ein Tag alt ist.«
»Schon wieder ein Fluch?« Cugel schüttelte verdrießlich den Kopf. »Zwei Flüche habe ich heute schon unwirksam gemacht; soll mir nun ein dritter auferlegt werden?«
»Diesen Fluch sollst du nicht unwirksam machen«, wisperte das Muschelgeschöpf. »Ich mache ihn zur letzten Handlung meines Lebens.«
»Bosheit ist eine beklagenswerte Eigenschaft«, sagte Cugel bekümmert. »Ich bezweifle die Wirksamkeit deines Fluches; nichtsdestoweniger würdest du gut beraten sein, die Luft von seinem Odium zu reinigen und so meine gute Meinung von dir zurückzugewinnen.«
Aber das Muschelgeschöpf sagte nichts mehr. Bald zerfiel es in eine trübe gallertartige Masse, die schleimig im Sand versickerte.
Cugel wanderte weiter den Strand entlang und überlegte, wie er die Folgen des Fluches am besten abwenden könnte. »Wenn man mit Verwünschungen fertig werden will, muß man seinen Verstand gebrauchen«, sagte er sich im Selbstgespräch. »Nicht umsonst nennt man mich Cugel, den Schlauen.« Aber keine geeignete List kam ihm in den Sinn, und während er weiterwanderte, bedachte er die Angelegenheit in all ihren Aspekten.
Das östliche Vorgebirge rückte allmählich näher, und Einzelheiten wurden erkennbar. Cugel sah, daß es mit dunklem Wald bedeckt war. Allmählich begann sich die Landschaft zu verändern. Die öden, mit Heidekraut und Zwergbirken bewachsenen Hügel und sumpfigen Täler machten einer weiten Ebene Platz. Die Vegetation wurde dichter und artenreicher, und nachdem er die Nacht in einem Dickicht zugebracht hatte, kam er am frühen Nachmittag des folgenden Tages in den Wald. Mißtrauisch beäugte er die tiefen Schatten, als er auf einer alten, überwachsenen Wegspur weiter vordrang, jedes unnötige Geräusch vermeidend, um nicht die verderbenbringende Aufmerksamkeit der Deodander, Leukomorphen und anderen Bewohner dieser berüchtigten Landstriche auf sich zu ziehen. Nach Stunden stieß Cugel auf einen Wasserlauf und folgte ihm, bis er am Rand einer sumpfigen Lichtung in einen breiten Fluß mündete.
Am Ufer saßen vier zerlumpte Männer bei einem festgemachten Floß. Nach anfänglichem Zögern wurde Cugel klar, daß er ihr Floß und ihre Hinweise benötigte, um weiterzukommen, und so
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