Das Auge der Ueberwelt
im Schatten des Turmes. Niemand schien seine Flucht bemerkt zu haben.
Kurz darauf schwang die Wirtshaustür auf, und Hylam Wiskode torkelte heraus. Cugel folgte dem betrunkenen Hetman in eine Seitengasse.
Ein einziger Schlag auf den Hinterkopf genügte, und der Hetman fiel vornüber in die Gosse. Sofort war Cugel über ihm und nahm ihm die Schlüssel ab. Er ging zum Gemeindemagazin, sperrte auf, schlüpfte hinein und füllte einen kleinen Sack mit Edelsteinen, Münzen, kostbaren Reliquien, Schmuckstücken und dergleichen. Darauf trug er den Sack zu einem Anlegesteg am Seeufer, wo er ihn unter einem Netz versteckte. Nun kehrte er ins Dorf zurück und suchte die Hütte seiner Braut Marlinka auf. Nachdem er sich durch einen dunklen Zwischenraum zwischen zwei Häusern getastet hatte, gelangte er zum offenen Fenster ihrer Schlafkammer und stieg hinein.
Der Druck seiner Hände an ihrer Kehle weckte sie. Als sie kreischen wollte, drückte er ihr die Luft ab. »Ich bin es«, zischte er, »Cugel, dein Mann! Steh auf und komm mit mir.«
Das entsetzte Mädchen gehorchte. Auf Cugels Befehl warf es einen Umhang um die Schultern und zog Sandalen an. »Wohin gehen wir?« wisperte sie mit stockender Stimme.
»Das wirst du sehen. Komm jetzt – durch das Fenster. Und ohne jedes Geräusch!«
Als sie draußen standen, warf Marlinka einen angstvollen Blick zum Turm hinüber. »Wer hält Wache? Wer bewacht das Dorf gegen Magnatz?«
»Niemand«, sagte Cugel. »Der Turm ist leer.«
Ihre Knie gaben nach; sie fiel auf die Seite. »Los, auf!« zischte Cugel. »Wir müssen weiter!«
»Aber niemand ist auf Wache! Das macht den Bann ungültig, mit dem der Zauberer Magnatz belegte, und Magnatz soll geschworen haben, er werde zurückkommen, sobald die Wachsamkeit vernachlässigt würde!« Und sie begann vor Angst zu schluchzen.
Cugel zog sie in die Höhe. »Das geht mich nichts an; ich lehne die Verantwortung ab. Habt ihr mich nicht getäuscht? Wo blieben meine Kissen, mein Bett? Wo blieb das gute Essen? Und meine Braut – wo warst du?«
Cugel trieb sie vor sich her zum Anlegesteg. Er band ein Fischerboot los, ließ sie einsteigen und warf seine Beute hinterher. Dann stieß er es ab, nahm die Riemen und ruderte auf den See hinaus. Marlinka war starr vor Schrecken. »Die Wirbel werden uns in die Tiefe ziehen! Hast du den Verstand verloren?«
»Im Gegenteil! Ich habe die Wirbel sorgfältig studiert und kenne genau den Gefahrenbereich.«
Scheinbar unbekümmert ruderte Cugel auf den See hinaus, aber er zählte jeden Ruderschlag und beobachtete die Sterne. Hier und dort hörte man das Gurgeln von Wasser. Dann nahm der Nebel zu und löschte die Sterne aus, und Cugel war gezwungen, den Anker auszuwerfen. »Das ist weit genug«, sagte er. »Wir sind jetzt sicher, und es gibt manches zwischen uns, das geklärt werden muß.«
Er stieg ins Bootsheck und setzte sich zu ihr. »Da bin ich, dein Ehemann! Bist du nicht überglücklich, daß wir endlich allein sind? Meine Kammer im Wirtshaus war bei weitem bequemer, aber dieses Boot wird genügen.«
»Nein, nein«, wimmerte sie. »Faß mich nicht an! Die Zeremonie war nur ein Trick, um dich zu bewegen, als Wachmann zu dienen.«
»Vielleicht sechzig Jahre lang, bis ich aus purer Verzweiflung den Gong schlüge?«
»Ich kann nichts dafür! Aber was soll aus dem Dorf werden? Niemand hält Wache, und der Bann ist gebrochen!«
»Um so schlimmer für die treulosen Bewohner! Sie haben ihren Schatz verloren, ihr schönstes Mädchen, und wenn der Tag anbricht, wird Magnatz über sie kommen.«
Marlinka stieß einen Schreckensschrei aus. »Du darfst diesen verfluchten Namen niemals aussprechen!«
»Warum nicht? Ich werde ihn über das Wasser rufen! Ich werde Magnatz sagen, daß er kommen und Vergeltung üben mag!«
»Nein, bitte nicht!«
»Dann mußt du dich so zu mir verhalten, wie ich es erwarte.«
Weinend gehorchte das Mädchen, und endlich kündigte ein rötlicher Lichtsein den neuen Tag an. Cugel stand im Boot auf, aber noch waren alle Landmarken verborgen.
Eine weitere Stunde verging, und es wurde hell. Die Leute von Vull würden entdecken, daß ihr Wachmann verschwunden war, und mit ihm ihr Schatz. Cugel schmunzelte, und bald zerriß eine Brise den Nebel und zeigte die Landmarken, die er sich eingeprägt hatte. Er stieg in den Bug und zog an der Ankerleine, doch zu seinem Verdruß hatte der Anker sich verfangen.
Er zerrte, stemmte sich mit gespreizten Beinen ein, und die Leine gab ein wenig
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