Das Auge des Basilisken
Allwetter-Tennisplätze, auf denen gespielt wurde. Weißgekleidete Diener, die Tabletts mit Wein, alkoholfreien Getränken, Früchten, Gebäck und kalten Fleischpasteten trugen, bewegten sich von einer Gruppe zur anderen; in einem großen Zelt wurden gehaltvollere Erfrischungen vorbereitet. Jenseits der Plätze, auf denen außer den Spielern vier englische Balljungen nach Bedarf hin und her liefen, war ein kleiner Musikpavillon, wo ein Holzbläserensemble Galoppe und Walzer aus einer Zeit spielte die eineinhalb Jahrhunderte zurücklag, während zwei oder drei Paare auf dem umgebenden gepflasterten Platz tanzten. Alles sollte stilvoll vor sich gehen, denn dies war eine der regelmäßig stattfindenden Sommergesellschaften, die von Igor Swaniewicz gegeben wurden, dem Heeresproviantmeister für die Überwachungseinheiten.
Und alles sah aus hinreichender Entfernung stilvoll und richtig aus; auch den Anwesenden erschien alles richtig. Niemand dachte, niemand sah, daß die Kleider der Festgäste aus minderwertigen Stoffen schlecht geschnitten waren, schlecht verarbeitet, schlecht sitzend, daß die Frisuren der Damen unordentlich und die Fingernägel der Männer schmutzig waren, daß die Oberflächen der Tennisplätze uneben und unzureichend geharkt waren, daß die weißen Jacken der Diener nicht sehr weiß waren, daß die Gläser und Teller, die sie trugen, nicht ordentlich gespült waren, oder daß das Pflaster, wo die Paare tanzten, hätte gefegt werden müssen. Niemand dachte, niemand nahm mit anderen Sinnen wahr, daß der Wein dünn war, die alkoholfreien Getränke voller Konservierungsstoffe und die Gebäcksorten fade, oder daß die Musik des Orchesters holperig und leblos war. Niemand dachte sich etwas bei alledem, weil niemand jemals etwas anderes gekannt hatte.
In Theodor Markows Augen nahm es sich wahrhaft großartig aus, sogar in einem einschüchternden Grad, und er hielt eifrig nach einem freundlichen oder gar bekannten Gesicht Ausschau. Er hoffte Nina zu sehen, um den glücklichen Zufall zu nutzen, der ihm zu einer Einladung hierher verholfen hatte, wo ihre Eltern und sie regelmäßige Gäste waren. Zwischen der Rückfront des Gebäudes und den Tennisplätzen war jedoch nichts von ihr zu sehen – oder vielleicht doch, nämlich in der Gestalt ihrer Eltern, die im Gespräch mit Oberst Tabidze und seiner Frau und dem Beauftragten Mets beisammenstanden. Nachdem er ein Glas Wein von einem dargebotenen Tablett genommen hatte, ging er zu ihnen und machte seine Aufwartung, einstweilen stumm, weil der Oberst gerade dabei war, eine Ansicht vorzutragen, die ihm offensichtlich etwas bedeutete.
»In welche Zeit sollen wir seinen Tod datieren?« sagte er in einem nicht sehr fragenden Ton. »Das Jahr 2000? 2020? Das ist für die Sache nicht wichtig: als aktive Wirkkraft, als eine breitenwirksame Ideologie, mit der gerechnet werden muß, hat der Marxismus aufgehört zu existieren. Seine Anhänger sind gestorben, dem Zynismus anheimgefallen oder in Hilflosigkeit verstummt. Aber was hätte ihn ersetzen können? Ah, guten Abend, lieber Freund.«
»Guten Abend, Oberst«, sagte Markow und begrüßte der Reihe nach die anderen, einschließlich Frau Petrowsky, die ihm für seinen Dankesgruß nach ihrer Abendeinladung wiederum dankte. Als die Begrüßung vorüber war, sagte er: »Bitte lassen Sie sich von mir nicht unterbrechen, Oberst!«
»Ach, ein kluger junger Mann wie Sie mag die Faseleien eines alten Tropfes nicht hören«, sagte Tabidze.
»Die Stimme der Weisheit«, sagte seine Frau. »Hören Sie auf sie!«
»Ich versichere Ihnen, daß ich äußerst interessiert bin«, sagte Markow aufrichtig.
»Nun gut, Sie haben es sich selbst zuzuschreiben … Wo war ich stehengeblieben?«
»Was den Marxismus ersetzt hat.« Petrowskys Miene zeigte interessierte Erwartung.
»Richtig. Was ihn ersetzt hat, ist nichts, ein Vakuum. Keine Theorie sozialistischer Demokratie, kein Liberalismus oder dergleichen, nicht einmal ein unpolitischer Kodex des Anstands oder Mitleids. Hinter der ausgehöhlten alten Fassade hatten sich keine neuen Ideen gebildet. Und mit den ökologischen Folgen der ungehemmten industriellen Entwicklung brach der Fortschrittsglaube ebenso zusammen wie die Hoffnung auf eine allgemeine Aufwärtsentwicklung. Das Christentum war längst abgetan, und keine der neuen Sektenreligionen konnte Fuß fassen. Wie stellte sich der Russe dazu? Kein Glaube, kein Zukunftsoptimismus, kein Vorbild. Unsere in einer anderen Zeit für
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