Das Auge des Basilisken
Schattierungen der erhaltenen Stücke zugewendet, doch wenn die Handwerker der alten Zeit die Rekonstruktionen der nicht erhaltenen Teile hätten sehen können, sämtlich in einem Geist peinlich genauen Festhaltens an den gestalterischen und erbauenden Wertvorstellungen der Zeit geschaffen, so wären sie vielleicht sehr erstaunt gewesen. Die Orgel andererseits, die mehr oder weniger unbeschädigt geblieben war, sah man ab von Verfall und Rost, ähnelte ihrem früheren Selbst ganz und gar, wenigstens in der äußeren Erscheinung, mochte fehlerhafte Wiederherstellung des Regierwerks und der Zuleitung des Luftstroms zu den Orgelpfeifen auch jähe laute Töne erzeugen, wo leise erwartet wurden und umgekehrt, zusammen mit unbeabsichtigten Augenblicken völliger Stille im eröffnenden Orgelsolo. Gleichwohl begleitete sie den Chor sicher genug durch das erste Kirchenlied.
»Wer tapfer ist im Leid,
Es willig trägt und gern,
Wird in Standhaftigkeit
Nachfolgen unserem Herrn …«
Der von einem russischen Meister ausgebildete und mit russischen Sängern verstärkte Chor entledigte sich gekonnt seiner Aufgabe, wahrte ein angenehmes Gleichgewicht der Stimmen, verschluckte keine Note und geriet an keiner Stelle ins Leiern. Aus den Reihen der Gemeindemitglieder stimmten ein paar alte Leute in den Gesang ein, darunter ein kraftvoller Baß, und nach und nach nahmen andere die Melodie auf. Joseph Wright, der mit Kitty im Hintergrund unter der Orgelempore stand, schien es wie etwas, was er immer gekannt hatte, ein Teil seiner Kindheit, obwohl er es nur bis zum Alter von drei Jahren in der Öffentlichkeit gehört haben konnte. Die Melodie verstand er, in ihr fühlte er sich zu Hause; der Text hingegen, den er auf einem vervielfältigten Blatt in der Hand hielt, war eine andere Sache.
»Bedrängen ihn von ringsum her
Mit traurigen Geschichten,
Verwirren doch sich selbst noch mehr …«
Warum wurde für interessant gehalten, daß der Mann, der sich tapfer und geduldig im Ertragen von Leid erwies, auch gegen Entmutigung durch traurige Geschichten gefeit sei? Und warum blieb die Identität der Erzähler trauriger Geschichten in undurchsichtiges Dunkel gehüllt? Aber die allgemeine Richtung war klar. Tapfere Menschen wurden ermutigt, eine Pilgerschaft anzutreten und zu einem Ort zu reisen, wo nach der Überlieferung ein Heiliger hingerichtet oder ein Wunder gewirkt worden war; und die Pilgerfahrt ging unter der Leitung eines Priesters oder Pfarrers vor sich, der als ›der Herr‹ bekannt war. Solche Pilger waren offenbar Schmähungen und entmutigenden Berichten über die Verhältnisse auf der Reise ausgesetzt. Nun …
»Und weichen wird der Torheit Wahn!
Ich fürchte nicht der Menschen Wort
Und ziehe fromm auf meiner Bahn,
ein Pilger zu dem sich’ren Hort.«
Natürlich! Die Pilgerfahrt war bei den Behörden nicht gern gesehen, vielleicht sogar verboten, aber der beherzte Christ bestand trotzdem auf seinem Recht, unbeirrt von Befürchtungen, daß Nachrichten von seinem Tun an ihre Ohren dringen könnte. Also behandelte der Liedtext weniger eine buchstäbliche Pilgerfahrt als vielmehr die Pflicht, den eigenen Überzeugungen zu folgen, was ihn in Wrights Augen mit Recht zu einem religiösen Liedtext machte, obwohl er sich nirgendwo auf Gott bezog. So bewundernswert das Thema des Liedes war, wenn es überhaupt als typisch dafür angesehen werden konnte, was die Generation seiner Eltern in der Kirche gesungen hatte, mußte man doch anerkennen, daß einige der frühen Maßnahmen der Russen jedenfalls nicht grundlos gewesen waren.
Wie hatten die anderen Gemeindemitglieder das Lied aufgenommen? Der Gesang hatte ihnen offensichtlich gefallen, zumal der Schlußchor mit Orgeluntermalung den Kirchenraum mit eindrucksvoller Klangfülle durchflutet hatte. Die Mienen der in den Bänken Sitzenden waren gelöst, erfreut und verrieten die Erwartung weiterer nüchterner Freuden. Nirgendwo sah er die Andeutung eines Triumphgefühls über die Wiedergewinnung eines Stückchens Freiheit oder eine Geste des Trotzes, wie geringfügig und statthaft auch immer, gegen den Unterdrücker. Jim Hough, Frank Simpson und all die anderen mit ihren Familien glichen sehr dem Bild, das ihre Vorfahren abgegeben haben mußten, wenn sie sich zum Abendgottesdienst in der Kirche eingefunden hatten, denn die dunklen Anzüge der Männer, die Melonen und Handschuhe, mit denen sie ausgestattet waren, die langen Kleider und breitrandigen Hüte der
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