Das Auge des Basilisken
lief auf eins hinaus. Er hatte die ganze Predigt seiner Enkelin diktiert, die sie ihm Satz für Satz wieder vorgelesen hatte, bis sie seinem Gedächtnis fest eingeprägt war. Er war nicht gewillt, sich auch nur den geringsten Ausrutscher zu leisten.
»Der heilige Paulus bekam unseren Herrn Jesus Christus niemals zu Gesicht, aber er wußte vieles über ihn, und auch über Gottvater, wahrscheinlich mehr als irgendein anderer, und er gab sein Wissen in einer direkten und anschaulichen Sprache weiter. Er war ein sehr offener Mann. Er meinte, was er sagte. Und als er schrieb: ›Wir sind Kinder Gottes‹, da gebrauchte er die Wendung nicht in der unbestimmten, sentimentalen Weise, in welcher die Leute über Kinder des Lichts oder Kinder der Liebe zu sprechen pflegten. Nein, der heilige Paulus drückte sich präzise aus. Wir – worunter er die gesamte menschliche Rasse während der Dauer ihrer Existenz verstand, uns alle hier mit eingeschlossen –, wir wurden von Gott erschaffen, von Gott in diese Welt gesetzt. Wir sind die Kinder von jemand, der kein menschliches Wesen ist, jemand, der unendlich viel mächtiger ist als ein Menschenwesen jemals sein kann, und auch unendlich viel liebevoller, womit gesagt sein soll, daß seine Liebe grenzenlos und ohne Ende ist. Wir sind auch die Kinder unserer Eltern, und wir alle wissen, wie liebevoll sie sein können, doch wissen wir auch, daß ihre Liebe nicht grenzenlos ist, und das ist ganz recht so: grenzenlose elterliche Liebe würde unvernünftig sein. Gott ist nicht nur unendlich liebevoll, sondern auch unendlich weise, und wieder wissen wir alle aus unserer gewöhnlichen Erfahrung, einige von uns als Eltern, wie notwendig es ist, daß die Liebe von Weisheit begleitet sei.«
Glover sprach einige Minuten lang über diese und andere Eigenschaften Gottes und wich dabei mit geübter Geschicklichkeit dem kitzligen Problem aus, das von einer göttlichen Liebe gestellt wurde, die offenbar imstande war, die schwersten Leiden der Objekte dieser Liebe hinzunehmen. Er hoffte von einigen seiner Zuhörer verstanden zu werden, hoffte, daß er überhaupt Zuhörer hatte; weil er ohne die stimulierende Wahrnehmung der Wirkung seiner Worte auskommen mußte, spürte er, daß er sie mit weniger Lebhaftigkeit vorbrachte, als er es gern getan hätte. Wenigstens wurden keine lauten Einwände oder andere Stellungnahmen geäußert; dann und wann bildete er sich ein, Bewegungen zum rückwärtigen Teil des Kirchenraumes auszumachen, doch war es dort zu dunkel, als daß Gewißheit möglich gewesen wäre. Er schloß seine Predigt, indem er mit allem Ernst, dessen er fähig war, verkündete:
»Eine Welt ohne einen anderen Sinn als den des Überlebens ist ein elender Ort. Sie ist auch ein sündiger Ort, aber darauf werde ich heute nicht eingehen. Die Freiheit, welcher wir uns einst erfreuten, ist endgültig verloren, und England wird niemals wieder glücklich sein. Aber es gibt eine bestimmte Möglichkeit, über alles zu triumphieren, was uns auferlegt werden mag, unsere Niederlage nicht in Sieg zu verwandeln, sondern in Trotz, dem Unterdrücker an einem Ort zu widerstehen, den er niemals einnehmen kann: in unserem Geist und unserer Seele. Das ist der einzige Weg, um unseren Stolz als Nation und unseren Daseinszweck als Männer und Frauen wiederzufinden. Und dieser Weg ist Gott. Wir brauchen Gott nötiger als in irgendeiner vergangenen Zeit, wir brauchen ihn nicht wie ein zerlumpter Bettier neue Kleider braucht, sondern wie ein Einbeiniger eine Krücke braucht, oder ein Ertrinkender Luft. Gott ist unser Vater; er will unser Bestes, und er weiß, was das Beste für uns ist. Würden die meisten Menschen nicht viel darum geben, wenn sie wüßten, was im Leben das Beste für sie ist? Wir müssen uns wieder daran gewöhnen, Gott zu bitten. Er hört immer. Betet zu ihm; er antwortet immer. Wenn ihr nicht an ihn glaubt, betet trotzdem zu ihm; wenn ihr an ihn glauben wollt, wird er euch dazu verhelfen. Er wird es tun, weil wir seine Kinder sind. Wir alle.
Nun singen wir gemeinsam das Lied ›Jesu, Geliebter meiner Seele‹.«
Obgleich er sich auf nichts als Vermutungen stützen konnte und sogar die Versicherung des Beauftragten Mets hatte, daß kein Teil des Gottesdienstes Anlaß zu amtlichem Interesse geben würde, war Glover fest überzeugt, daß der volle Wortlaut seiner Predigt bald den Behörden vorliegen würde, sie wahrscheinlich bereits erreicht hatte. Aber es machte ihm nichts aus. Er hatte Gott
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