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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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einem schwarzen Land. Was denken die Schwarzen, wenn sie unsere Schuhe und ihre eigenen Latschen sehen? Was halten sie von der Freiheit, die sie erlangt haben?
    Er sinkt in einen unruhigen Schlaf.
    Plötzlich wird er von einem Geräusch geweckt, und in der Dunkelheit weiß er für einen Moment nicht, wo er ist.
    Afrika, denkt er. Noch weiß ich nichts von dir. Vielleicht hat Afrika in Janines Träumen so ausgesehen? Auf einmal kann ich mich nicht mehr erinnern, worüber wir an ihrem Küchentisch gesprochen haben. Aber ich ahne, daß meine Wertmaßstäbe und Denkmuster hier weder ausreichen noch gelten. Hier ist ein anderes Sehen erforderlich …
    Er lauscht in die Dunkelheit und fragt sich, ob er sich nun die Stille oder aber die Geräusche einbildet, und bekommt wieder Angst.
    Ruth und Werner Mastertons Freundlichkeit ist umgeben von einer Katastrophe, denkt er. Diese Farm, das weiße Haus ist umzingelt von Angst und Wut, die sich schon viel zu lange aufgestaut haben.
    Er liegt wach und stellt sich vor, Afrika wäre ein verletztes Raubtier, das noch zu Kräften kommen muß, um sich zu erheben. Der Atem der Erde und des Tieres sind eins, das Gestrüpp, in dem es sich verbirgt, ist undurchdringlich. War das nicht Janines Vorstellung von diesem verletzten und versehrten Kontinent? War er nicht wie ein Büffel, den man zwar in die Knie gezwungen hat, in dem aber noch so viel Kraft steckte, daß die Jäger auf Distanz blieben?
    Vielleicht konnte sie dank ihres Einfühlungsvermögens tiefer in die Wirklichkeit eindringen als ich, der ich mich auf afrikanischem Boden bewege? Vielleicht machte sie in ihren Träumen eine Reise, die ebenso wirklich war wie meine sinnlose Flucht zur Missionsstation in Mutshatsha.
    Vielleicht gibt es auch noch eine andere Wahrheit. Könnte man nicht sagen, daß ich hoffe, eine andere Janine auf dieser Missionsstation zu treffen? Einen lebendigen Menschen, der sie, die Tote, ersetzen kann?
    Er liegt wach, bis die Dunkelheit rasch dem nahenden Morgen weicht. Durch das Fenster sieht er die Sonne wie einen roten Feuerball am Horizont aufgehen.
    Auf einmal entdeckt er Louis, der neben einem Baum steht und ihn beobachtet. Obwohl es bereits sehr heiß ist, läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Wovor habe ich Angst, denkt er. Vor mir selbst oder vor Afrika? Was hat Afrika mir zu sagen, das ich nicht hören will?
    Um Viertel nach sieben verabschiedet er sich von Ruth Masterton und klettert neben ihren Mann auf den Beifahrersitz des Jeeps.
    »Kommen Sie wieder«, sagt Ruth Masterton. »Sie sind uns immer herzlich willkommen.«
    Als sie durch das große Tor der Farm fahren, an dem die beiden Afrikaner linkisch salutieren, bemerkt Hans Olofson einen alten Mann; er steht am Straßenrand im hohen Elefantengras und lacht. Halb verborgen huscht er vorbei. Viele Jahre später wird ihm dieses Bild wieder in den Sinn kommen.
    Ein Mann, halb versteckt, der am frühen Morgen lautlos lacht …

H ÄTTE DER GROSSE LEONARDO seine Zeit damit vergeudet, Blumen zu pflücken?
    Sie sitzen in der Dachmansarde des Gerichtsgebäudes und schweigen sich plötzlich an. Es ist Frühsommer 1957, und der letzte Schultag ist in greifbarer Nähe.
    Für Sture ist die Volksschule nun fast vorbei, die Realschule wartet.
    Hans Olofson geht noch ein Jahr in die Volksschule, ehe er sich entscheiden muß. Gelegentlich spielt er mit dem Gedanken, weiter zur Schule zu gehen. Aber warum? Kein Kind will Kind sein, jedes will so schnell wie möglich erwachsen werden.
    Doch was hat ihm die Zukunft zu bieten?
    Stures Weg dagegen scheint bereits vorgezeichnet zu sein. Der große Leonardo hängt mahnend an der Wand.
    Hans Olofson brütet weiter verschämt über seinem hoffnungslosen Traum, das Holzhaus die Taue zerreißen und den Fluß hinabtreiben zu sehen. Wenn Sture ihm mit Fragen zusetzt, weiß er keine Antwort.
    Soll er in den Wald ziehen und den Horizont freischlagen wie sein Vater? Seine ewignassen Wollsocken zum Trocknen über den Herd hängen?
    Er weiß es nicht, und wenn er mit Sture in der Dachmansarde sitzt und die frühsommerliche Luft zum offenen Fenster hereinweht, ist er neiderfüllt und unstet. Hans Olofson hat vorgeschlagen, Blumen für den letzten Schultag zu pflücken.
    Sture beugt sich über eine Sternenkarte und macht sich Notizen. Hans Olofson weiß, daß er sich vorgenommen hat, einen noch unbekannten Stern zu entdecken.
    Als Hans Olofson Blumen vorschlägt, herrscht Schweigen im Raum. Leonardo vergeudete seine Zeit nicht

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