Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
damit, die Umgebung auf der Suche nach Tischschmuck zu durchstreifen. Mit mühsam unterdrückter Wut fragt sich Hans Olofson, wie Sture da so sicher sein kann; er sagt aber nichts und wartet. In diesem Frühjahr muß er immer häufiger warten, bis Sture mit einer der wichtigen Aufgaben fertig ist, die er sich vorgenommen hat.
    Hans Olofson spürt, daß der Abstand zwischen ihnen größer wird. Von ihrer früheren engen Verbundenheit sind nur noch die Besuche bei Janine geblieben. Er hat das Gefühl, daß Sture sich entfernt, zwar nicht aus der Stadt, aber aus ihrer alten Gemeinschaft. Das beunruhigt ihn vor allem deshalb, weil er den Grund nicht versteht, nicht begreifen kann, was eigentlich passiert ist.
    Einmal spricht er die Frage ohne Umschweife an.
    »Was soll denn passiert sein?« lautet die Antwort.
    Danach fragt er nicht mehr.
    Aber Sture kann auch unberechenbar sein. Wie jetzt, als er plötzlich ungeduldig die Sternenkarte in die Ecke knallt und aufsteht. »Gehen wir?« sagt er.
    Sie rutschen die Uferböschung herab und setzen sich unter das breite Brückendach aus Stahlträgern und steinernen Pfeilern. Das Frühjahrshochwasser braust zu ihren Füßen, das sonst so leise Murmeln des Flusses ist dem Donnern der Stromschnellen gewichen. Sture wirft einen verrotteten Baumstumpf in den Fluß, der wie ein halb ertrunkener Troll davontreibt.
    Ohne zu wissen, wieso, wird Hans Olofson plötzlich schwindlig. Das Blut pocht in seinen Schläfen, und er spürt, daß er etwas tun muß, um in den Augen der Welt sichtbar zu werden.
    Schon oft hat er von der Mutprobe phantasiert, auf einem der Brückenbögen, die nur wenige Dezimeter dick sind, über den Fluß zu klettern. In schwindelnde Höhe zu klettern, wohlwissend, daß ein Sturz den sicheren Tod bedeutet.
    Unentdeckte Sterne, denkt er wütend. Ich werde näher an die Sterne heranklettern, als Sture es je tun wird.
    »Ich habe mir überlegt, über den Brückenbogen zu klettern«, sagt er.
    Sture schaut zu den gewaltigen stählernen Bögen hinauf.
    »Unmöglich«, sagt er.
    »Natürlich ist das möglich«, antwortet Hans Olofson. »Man muß sich nur trauen.«
    Sture blickt erneut hoch. »Auf so einen Schwachsinn kommen doch nur kleine Kinder«, sagt er.
    Hans Olofsons Herz macht einen Sprung. Meint Sture damit etwa ihn?
    »Du traust dich nur nicht«, sagt er. »Verdammt, du traust dich nicht.«
    Sture sieht ihn erstaunt an. Normalerweise ist Hans Olofsons Stimme fast sanft, aber nun spricht er laut, abgehackt und schneidend, als wäre seine Zunge durch ein Stück Kiefernrinde ersetzt worden. Und noch dazu die Behauptung, er würde sich nicht trauen …
    Nein, er würde sich tatsächlich nicht trauen. Einen der Brückenbögen hochzuklettern hieße, grundlos sein Leben aufs Spiel zu setzen. An Höhenangst leidet er nicht, und wenn es sein muß, klettert er wie ein Affe in einen Baum. Aber die Brücke ist zu hoch, und falls er abrutscht, fängt ihn kein Sicherheitsnetz auf.
    Aber das alles sagt er Hans Olofson natürlich nicht. Statt dessen lacht er auf und spuckt verächtlich in den Fluß.
    Als Hans Olofson die Spucke sieht, trifft er seine Entscheidung. Den höhnisch vorgebrachten Vorwurf, kindisch zu sein, kann er nur auf den Stahlstreben entkräften. »Ich werde jetzt da hochklettern«, sagt er mit zitternder Stimme. »Und du kannst mir glauben, ich werde mich ganz oben hinstellen und dir auf den Kopf pissen.«
    Die Worte klappern in seinem Mund, als wäre er bereits in größter Not.
    Sture sieht ihn ungläubig an. Meint er das ernst?
    Auch wenn der zähneklappernde, fast weinende Hans Olofson nun wirklich nicht wie ein entschlossener und erfahrener Bergsteiger aussieht, der sich bereit macht, eine scheinbar unüberwindliche Felswand zu bezwingen, liegt in seiner zitternden Besessenheit doch etwas, was in Sture Zweifel aufkommen läßt.
    »Dann tu’s doch«, sagt er. »Wenn du es tust, dann tue ich es auch.«
    Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Würde er jetzt noch einen Rückzieher machen, käme dies einer unerträglichen Demütigung gleich.
    Als wäre er auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung, klettert Hans Olofson die Böschung hinauf, bis er den Brückenkopf erreicht hat. Dann zieht er die Jacke aus und stemmt sich auf einen der Brückenbögen. Als er aufblickt, sieht er, wie sich das gewaltige Stahlband in der Ferne verliert, mit der grauen Wolkendecke zu verschmelzen scheint. Die Strecke kommt ihm endlos lang vor, als müßte er in den Himmel klettern. Er

Weitere Kostenlose Bücher