Das Auge des Leoparden
versucht, sich zu beruhigen, aber davon wird er nur noch nervöser.
Verzweifelt beginnt er, höher zu rutschen, und wenn er ehrlich ist, weiß er, daß er natürlich keine Ahnung hat, warum er unbedingt über den verdammten Brückenbogen klettern muß. Aber dafür ist es jetzt zu spät, und er schiebt sich wie ein hilfloser Frosch das stählerne Band hinauf.
Sture, dem nun klargeworden ist, daß Hans Olofson es ernst meint, will ihm eigentlich zurufen, er solle herunterkommen, aber gleichzeitig regt sich in ihm die verbotene Lust, einfach abzuwarten und zu beobachten, was geschehen wird. Vielleicht wird er ja Zeuge, wie jemand daran scheitert, das Unmögliche vollbringen zu wollen.
Hans Olofson schließt die Augen und kriecht weiter. Der Wind singt in seinen Ohren, das Blut pocht in den Schläfen, und er ist vollkommen allein. Der stählerne Bogen kühlt seinen Körper, die Köpfe der Stahlnägel schaben über Knie und Arme, und seine Finger sind schon ganz steif. Er verdrängt jeden Gedanken und zieht sich nur immer weiter, als befände er sich in einem seiner üblichen Träume. Aber gleichzeitig hat er das Gefühl, sich über die Erdachse zu schieben.
Plötzlich spürt er, daß der Bogen unter ihm allmählich flacher wird, was ihn jedoch keineswegs beruhigt, sondern seine Angst noch steigert, denn nun sieht er vor seinem inneren Auge, wie hoch er jetzt ist, wie weit entfernt in seiner großen Einsamkeit. Wenn er jetzt fällt, kann ihn nichts mehr retten.
Verzweifelt kriecht er weiter, klammert sich an den stählernen Bogen und rutscht Meter für Meter zur Erde zurück. Seine Finger umklammern den Stahl wie gelähmte Klauen, und für einen schwindelerregenden Moment ist er fest davon überzeugt, sich in eine Katze verwandelt zu haben. Unter sich spürt er nun etwas, das ihn wärmt, weiß aber nicht, was es ist.
Als er den Brückenkopf am anderen Flußufer erreicht und vorsichtig die Augen öffnet, wird ihm klar, daß er tatsächlich überlebt hat, und er klammert sich an den stählernen Bogen, als hätte dieser ihn gerettet. Lange bleibt er so liegen, ehe er auf die Erde hinunterspringt.
Er betrachtet die Brücke und denkt, daß er sie besiegt hat. Nicht wie einen äußeren Feind, sondern wie einen Feind in seinem Innern. Er wischt sich das Gesicht ab, bewegt die Finger, um wieder Gefühl hineinzubekommen, und sieht Sture mit seiner Jacke in der Hand über die Brücke schlendern.
»Du hast vergessen zu pissen«, meint Sture.
Hat er das vergessen? Nein, hat er nicht! Jetzt weiß er, woher die plötzliche Wärme auf dem kalten Stahl kam. Sie kam von seinem Körper, der nachgab. Er zeigt auf den dunklen Fleck auf seiner Hose. »Von wegen, ich habe es nicht vergessen«, sagt er. »Schau her! Oder möchtest du lieber daran riechen?«
Dann ist der Augenblick der Rache gekommen. »Jetzt bist du an der Reihe«, sagt er und setzt sich auf seine Jacke.
Aber Sture hat sich schon eine Ausrede zurechtgelegt. Als ihm klargeworden ist, daß Hans Olofson nicht in den Fluß stürzen wird, sucht er fieberhaft nach einem Weg, um sich aus der Affäre zu ziehen. »Ich mach’s schon noch«, antwortet er deshalb. »Aber nicht jetzt. Ich habe nicht gesagt, wann.«
»Und wann machst du es?« fragt Hans Olofson.
»Ich sage dir Bescheid.«
Es ist Abend geworden, als sie sich auf den Heimweg machen. Die Blumen hat Hans Olofson vergessen. Blumen gibt es viele, aber Brückenbogen …
Sie schweigen. Hans Olofson würde gerne etwas sagen, aber Sture ist abwesend und unnahbar. Schnell trennen sich ihre Wege am Tor vor dem Gerichtsgebäude.
Der letzte Schultag beginnt mit schwebendem Nebel, der sich schnell auflöst und im Sonnenaufgang verschwindet. In den Klassenzimmern riecht es nach Bohnerwachs, und Rektor Gottfried sitzt seit fünf Uhr in seinem Büro, um seine Abschiedsworte an jene Schüler zu formulieren, die er nun ins Leben entlassen wird.
An diesem Morgen hält er sich mit dem Wermut zurück, ist wehmütig und nachdenklich. Der letzte Schultag erinnert ihn, inmitten der überschäumenden Erwartungen seiner Schüler, an die eigene Vergänglichkeit …
Um halb acht tritt er auf die Treppe hinaus. Inständig hofft er, keinen Schüler zu sehen, der ohne einen Angehörigen kommt. Nichts regt ihn so auf wie ein Kind, das am letzten Schultag allein zur Schule kommen muß.
Um acht klingelt die Schulglocke, und in den Klassenzimmern herrscht erwartungsvolle Stille. Rektor Gottfried macht seine Runde durch die Schulflure,
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