Das Auge des Leoparden
Wo wird er gebraucht, wenn man vom Ziehen eines Karrens oder der Arbeit in einem Winterquartier absieht, in dem entkräftete Pferde gepeinigt werden?
Ich muß hier weg, denkt er. Weg von diesem verfluchten Pferdehändler.
Aber was soll er sonst machen? Hält das Leben überhaupt Lösungen für ihn bereit? Wer wird ihm das Losungswort ins Ohr flüstern?
In der Winternacht im Februar 1959 geht er nach Hause.
Eine schwindelnde Sekunde ist unser Leben, ein Atemzug im Mund der Ewigkeit. Nur Verrückte glauben, der Zeit trotzen zu können.
Er bleibt vor dem Holzhaus stehen. Die Kälte läßt den Schnee knistern.
Der Schneepflug, der Anker, das Haus ist vertäut.
Ich zu sein und kein anderer, denkt er. Und wenn schon. Was kommt dann, was noch?
Er steigt die Treppe in dem stillen Haus hinauf und zieht seine Skischuhe aus. Der Vater schnarcht in seinem Zimmer.
Wie rastlose Vogelschwärme surren die Gedanken durch seinen Kopf, nachdem er zu Bett gegangen ist. Er versucht, sie festzuhalten und einen nach dem anderen unter die Lupe zu nehmen.
Aber er sieht immer nur das angsterfüllte Auge des Pferds und den Pferdehändler, der wie ein böser Troll grinst.
Eine schwindelnde Sekunde ist unser Leben, denkt er noch einmal vor dem Einschlafen.
Im Traum wächst Céléstine aus ihrer Vitrine heraus, und vor dem Hintergrund einer Welt, die ihm gänzlich unbekannt vorkommt, kappt er schließlich die Vertäuung.
H AT DIE ZEIT Gesichtszüge?
Wie erkennt man, wenn sie einem zuwinkt und Abschied nimmt?
Eines Tages wird ihm bewußt, daß er schon ein Jahr bei Judith Fillington ist. Eine Regenzeit ist vorübergegangen, und wieder herrscht brütende Hitze auf afrikanischem Boden.
Und die Fragen, die er sich stellt? Sie sind geblieben, nur daß eine Frage einer anderen gewichen ist. Nach einem Jahr wundert er sich nicht mehr, daß er ist, wo er ist, sondern eher, wie die Zeit so schnell vergehen konnte.
Nach dem Malariaanfall ist Judith ein halbes Jahr lang nicht richtig zu Kräften gekommen. Ein viel zu spät entdeckter Darmparasit, der sich in ihren Eingeweiden festgesetzt hatte, schwächte sie noch zusätzlich. Hans Olofson sah keine Möglichkeit zur Abreise, denn dann hätte er die erschöpfte Frau in ihrem zu großen Bett im Stich gelassen.
Woher sie den Mut genommen hat, die Leitung der Farm ohne weiteres seinen ungeübten Händen zu überlassen, ist ihm ein Rätsel.
Irgendwann entdeckt er, daß er morgens mit einer völlig neuen, ihm unbekannten Freude aufwacht. Zum erstenmal in seinem Leben hat er das Gefühl, eine Aufgabe zu haben, auch wenn es nur darum geht, Eiertransporte in einer Staubwolke aus roter Erde verschwinden zu sehen.
Vielleicht gibt es ja nichts Wichtigeres, als Lebensmittel zu produzieren und dabei zu wissen, daß immer jemand darauf wartet.
Nach einem Jahr kommt er zudem auf Gedanken, die ihm leichtfertig erscheinen. Ich bleibe, denkt er. Solange Judith geschwächt ist, solange kein Nachfolger eintrifft. Ich kann hier aus allem etwas lernen. Aus den Eiern und den ständigen Problemen mit dem Futter oder daraus, was es heißt, zweihundert Afrikaner an die Kandare zu nehmen. Irgend etwas davon werde ich auch nach meiner Heimkehr brauchen können.
Nach einem halben Jahr schreibt er einen Brief an seinen Vater, in dem er ihm mitteilt, daß er für unbestimmte Zeit in Afrika bleiben wird. Zu seinem Studium und seiner Rückkehr zu dem Ziel, Verteidiger der mildernden Umstände zu werden, schreibt er nur: Ich bin noch jung. Der Brief ist eine weit ausholende Epistel, eine persönlich gefärbte Räuberpistole, bei der er alle Proportionen verändert.
Dieser Brief ist ein später Dank, überlegt er. Ein Danke für die vielen Erlebnisse über den Seekarten in dem Haus am Fluß.
»Ich lebe mitten in einem Abenteuer«, schreibt er, »einem Abenteuer, das aus der Kraftquelle entsprungen ist, die vielleicht das wahre Wesen aller Abenteuer bezeichnet: Zufälle, die sich miteinander verknüpfen und an denen ich teilhaben darf.«
Als handelte es sich dabei um ein wertvolles Frachtstück, das im Laderaum der Céléstine verstaut werden soll, legt er einen Krokodilzahn dazu.
»Die Zähne des Reptils schützen einen vor Gefahren«, schreibt er. »Ich schicke dir ein Amulett, das dich vor Fehlschlägen mit der Axt und fallenden Bäumen, denen du ansonsten nicht entronnen wärst, schützt.«
Als er eines Nachts nicht schlafen kann und durch das dunkle Haus in die Küche geht, um ein Glas Wasser zu trinken, hört
Weitere Kostenlose Bücher