Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
denkt er. Was ich gesehen habe, verstehe ich zwar nicht, doch gesehen habe ich es. Ich bin kein Reisender; daß Expeditionen ins Unbekannte reizvoll sind, habe ich mir nur eingebildet.
    Einst schob ich mich über einen Brückenbogen, als würde ich auf der Erdachse reiten. Oben auf dem kalten Metall blieb etwas zurück. Es war die längste Reise meines Lebens.
    Vielleicht bin ich in Wirklichkeit noch heute dort oben, die Finger krampfhaft an das kalte Metall gepreßt. Vielleicht bin ich im Grunde nie mehr heruntergekommen und hocke noch immer da oben, eingeschlossen in meine Angst …
    Er legt sich ins Bett und löscht das Licht. Aus der Dunkelheit strömen die Geräusche heran, die schleichenden Hunde, das grunzende Flußpferd am Kafue.
    Als er fast eingeschlafen ist, wird er für einen Moment wieder hellwach. Jemand lacht in der Dunkelheit. Einer der Hunde kläfft, dann ist wieder alles still.
    Seine Gedanken kehren zu der Ziegelei zurück, zu jener Ruine, in der er zum erstenmal bewußt sein Ich in Worte faßte. Das Lachen, das aus der Nacht an sein Ohr drang, kommt ihm wie eine Fortsetzung vor. Die Ruine der Ziegelei führte ihm seine Existenz vor Augen. Das befestigte Schlafzimmer in dem Haus am Kafue, umgeben von großen Hunden, enthüllt eine Bedingung. Das Lachen, das zu ihm dringt, beschreibt die Welt, in der er nun zufällig existiert.
    So sieht sie aus, denkt er. Früher wußte ich es, ohne es zu wissen. Heute sehe ich, daß die Welt Schlagseite bekommen hat, sehe die Armut und das Leiden. Sie sind die eigentliche Wahrheit. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke gab es nur noch die Sterne und den weiten Horizont der Kiefern, den ich hinter mir lassen wollte, und jetzt bin ich angekommen. Jetzt hier zu sein bedeutet, daß ich mich im Zentrum der Epoche aufhalte, die zufällig die meine ist.
    Ich weiß nicht, wer da gelacht hat, und kann auch nicht sagen, ob dieses Lachen bedrohlich oder verheißungsvoll klang.
    Er denkt, daß er bald abreisen wird. Das Rückflugticket ist seine große Versicherung. Wo die Welt geteilt ist, wo sich das Schicksal der Welt entscheidet, muß er nicht unbedingt leben.
    Er streckt die Hand in der Dunkelheit aus und tastet den kalten Gewehrlauf ab.
    Jetzt hat er es eilig, nach Hause zu kommen. Judith wird den Nachfolger von Duncan Jones ohne sein Zutun suchen müssen. Die Aufenthaltsgenehmigung, die Mister Pihri bei seinen Freunden erwirkt und für die er fünfhundert Eier bekommen hat, wird er nicht ausnutzen.
    Aber Hans Olofson irrt sich.
    Wie so oft drehen sich seine Einschätzungen einmal um sich selbst und kehren als ihr Gegenteil zum Ausgangspunkt zurück.
    Das Rückflugticket ist schon fast verrottet.

H ANS OLOFSONS Träume wollen ihn fast immer an etwas erinnern.
    In den Träumen sorgt sein Bewußtsein dafür, daß er nichts vergißt. Oft beginnen sie mit einem wiederkehrenden Präludium, so als würde sich in den Träumen der verschlissene Vorhang zur immergleichen Musik heben.
    Diese Musik ist die sternenklare, eisigkalte Winternacht.
    Er ist schon fast erwachsen und steht an der Kirchenmauer unter einer Straßenlaterne. Als einsamer und trauriger Schatten hebt er sich vom Weiß der strengen Winternacht ab.
    Das konnte er doch nicht ahnen! Er konnte doch keinen Blick in die verschleierte Welt der Zukunft werfen, als er endlich den letzten Schultag überstanden, die Schulbücher unter das Bett geworfen und sich auf den Weg zu seiner ersten richtigen Arbeitsstelle als Hilfsarbeiter auf dem Lager des Einzelhandelsverbands gemacht hatte. Damals erschien ihm die Welt verständlich und vollendet. Nun würde er Geld verdienen, einer Arbeit nachgehen und lernen, erwachsen zu werden.
    Später sollte ihm von seiner Zeit auf dem Lager vor allem in Erinnerung bleiben, daß er ununterbrochen einen Karren den Hang zum Bahndamm hinaufziehen mußte. Der ihm zugeteilte Karren war nicht mehr der neueste und hatte ausgeleierte Räder, und innerlich fluchend zog er ihn in einem ewigen Kreislauf zwischen Güterabfertigung und Lager hinter sich her. Schon bald merkte er, daß seine Flüche den Anstieg auch nicht leichter machten, aber die Flüche waren seine Rache und ein Ausdruck hilfloser Wut und dadurch möglicherweise doch etwas, woraus er Kraft schöpfen konnte.
    Flacher wurde der Hang dadurch allerdings nicht!
    Er beschließt, daß die Hölle, als die er das Lager des Einzelhandelsverbands erlebt, nicht die ganze Wahrheit sein kann. Eine ehrenvolle Arbeit und die Gemeinschaft der

Weitere Kostenlose Bücher