Das Auge des Leoparden
glasigen Augen am Tisch, und vor ihm steht eine halb geleerte Flasche. Hans Olofson muß erkennen, daß sein Vater einmal mehr dabei ist, sich trinkend in ein Wrack zu verwandeln.
Daß es so verdammt schwer sein soll zu leben, denkt er. Glatteis, wohin man sich auch wendet.
In diesem Winter entpuppt sich auch Under als etwas anderes als ein gütiger Pferdehändler in Galoschen. Hinter seiner jovialen Maske verbirgt sich Grausamkeit.
Hans Olofson muß erfahren, daß Unders Freundlichkeit einen Preis hat. Unter seinem weiten Mantel verbirgt sich ein Reptil, und er muß einsehen, daß er im Kosmos des Pferdehändlers nicht mehr ist als zwei starke Arme und gehorsame Beine. Als Visselgren Mitte Februar an Gliederschmerzen leidet, hat der Spaß für ihn ein Ende. Der Pferdehändler besorgt ihm eine einfache Fahrkarte ins schonische Skänninge und fährt ihn zum Bahnhof. Dort angekommen bequemt er sich nicht einmal, aus dem Wagen zu steigen und sich für die Zeit, die Visselgren bei ihm gearbeitet hat, zu bedanken. Im Stall hält er später lange Monologe über Visselgrens falsches Wesen, als wäre er der Meinung, man müsse Visselgrens Krankheit im Grunde als Charakterschwäche begreifen.
Neue Angestellte kommen und gehen, und am Ende sind von den ursprünglichen Arbeitskollegen nur die Brüder Holmström und Hans Olofson übriggeblieben. Hans Olofson ertappt sich bei ähnlichen Gedanken wie zu der Zeit, als er noch den Karren zwischen Lager und Güterabfertigung hin- und herzog.
Ist er nun am gleichen Punkt angekommen? Wo aber gibt es dann die ehrenvolle Arbeit und die Gemeinschaft bei den alltäglichen Mühen, in denen er den höheren Sinn des Lebens vermutet hat?
Wenige Wochen nach Visselgrens Verschwinden kommt der Pferdehändler eines späten Nachmittags mit einer schwarzen Kiste unter dem Arm in den Stall. Die Holmströms sind in ihrem melancholischen Saab schon gefahren, und Hans Olofson ist allein und bereitet im Stall alles für die Nacht vor.
Die Schritte des Pferdehändlers führen zu einer vergessenen Box, in der ein abgehalfterter Kaltblüter in der Ecke steht. Under hat ihn vor kurzem für ein paar symbolische Geldscheine gekauft und Hans Olofson hat sich schon gewundert, warum sie das Pferd nicht längst zum Schlachthof gebracht haben.
Aus der schwarzen Kiste holt der Pferdehändler ein Gerät heraus, das dem Trafo einer elektrischen Eisenbahn ähnelt. Dann ruft er Hans Olofson zu sich und beauftragt ihn, eine Verlängerungsschnur zu holen. Der Pferdehändler summt, streift den weiten Mantel ab, und Hans Olofson tut, wie ihm gesagt wird.
Und was wird ihm gesagt?
Mit Ketten soll er das alte Pferd festbinden und Stahlklemmen an den Ohren befestigen. Durch die Kabel fließt anschließend elektrischer Strom, und das Tier zuckt unter den Stromstößen krampfhaft zusammen. Pferdehändler Under dreht zufrieden an dem kleinen Rädchen des Meßapparats, als würde er eine Modelleisenbahn steuern, und Hans Olofson schwört sich ohnmächtig, die gequälten Augen des Pferds niemals zu vergessen.
Die Folter dauert fast eine Stunde, und der Pferdehändler ermahnt Hans Olofson zu überprüfen, daß die Ketten auch fest sitzen, damit sich das Tier nicht losreißt.
Er haßt diesen verfluchten Pferdehändler, der das kraftlose Pferd quält, und begreift, daß Under selbst für dieses abgearbeitete Tier noch einen Käufer in der Hinterhand hat. Mit Strom und Stahlklemmen wird die versiegende Kraft wieder in das Pferd gejagt, eine Kraft, deren Quelle einzig und allein Angst ist.
»Es wird wieder jung«, sagt Under und erhöht die Stromstärke noch einmal.
Das Pferd hat jetzt Schaum vor dem Maul, die Augen treten aus den Höhlen.
Hans Olofson wünscht sich, die Stahlklemmen an der Nase des Pferdehändlers zu befestigen und anschließend den Strom aufdrehen zu können, bis Under um Gnade und Erbarmen winselt. Aber das tut er natürlich nicht. Er tut, was ihm gesagt wird.
Dann ist es vorbei. Das Pferd steht mit abgewandtem Kopf in seiner Box und der Pferdehändler begutachtet sein Werk.
Plötzlich packt er Hans Olofson am Hemd, als wollte er seine Klauen in ihn schlagen. »Das bleibt unter uns«, sagt er. »Nur du und ich und das Pferd werden davon erfahren. Verstanden?«
Er zieht einen verknitterten Fünfkronenschein aus der Tasche und drückt ihn Hans Olofson in die Hand.
Als er den Geldschein an der Kirchenmauer zerreißt, fragt er sich, ob er je den Sinn des Lebens erkennen wird.
Wer braucht Hans Olofson?
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