Das Auge des Leoparden
er Judith in ihrem abgeschlossenen Zimmer weinen. Und vielleicht ahnt er in diesem Moment, während er in der heißen Dunkelheit vor ihrem Zimmer steht, zum erstenmal, daß er in Afrika bleiben wird. In seinem Bewußtsein öffnet sich eine Tür einen Spaltbreit und läßt ihn einen flüchtigen Blick in eine Zukunft erhaschen, die niemals vorgesehen war.
Ein Jahr vergeht.
Das Flußpferd, das er nie zu Gesicht bekommt, grunzt am Fluß. Eine glänzende Kobra schlängelt sich eines Morgens durch das feuchte Gras zu seinen Füßen. Nachts sieht er manchmal Feuer am Horizont, und das Geräusch entfernter Trommeln dringt wie eine schwer zu deutende Sprache an sein Ohr.
Das Elefantengras brennt, die Tiere fliehen. Er stellt sich vor, ein fernes Schlachtfeld zu betrachten, einen Krieg, der seit Urzeiten tobt.
Ich, denkt er. Ich, Hans Olofson, habe zwar noch genauso viel Angst vor dem Unbekannten wie damals, als ich aus dem Flugzeug stieg und die Sonne die Welt bleichte. Mir ist klar, daß sich um mich herum eine Katastrophe anbahnt, eine nur aufgeschobene Zeitenwende. Ich weiß, daß ich ein Weißer bin, eine der Kerzen, die allzu stark ins Auge fallen, einer von denen, die auf diesem Kontinent untergehen werden. Trotzdem bleibe ich hier.
Ich habe versucht, mich zu wappnen und bei dieser Kraftprobe jemand zu sein, der
nicht ist
. Ich bin ein Außenstehender, nur kurz zu Besuch, an nichts beteiligt und frei von Schuld. Doch vielleicht nützt mir das nichts. Ist es die letzte Illusion des weißen Mannes? Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß meine Angst nicht mehr die gleiche ist wie damals, als ich das erstemal in der weißen Sonne stand.
Ich glaube nicht mehr, daß alle Schwarzen ein
panga
wetzen, um mir im Schlaf die Kehle zu durchschneiden. Heute habe ich Angst vor den Mörderbanden, die in diesem Land wüten, vor den Meuchelmördern, die möglicherweise auch auf dieser Farm Unterschlupf suchen. Aber ich rechtfertige nicht, was ich nicht weiß, indem ich in allen Schwarzen, denen ich begegne, Mörder sehe. Die Arbeiter auf der Farm sind für mich keine namenlosen, bedrohlichen Gesichter mehr, die alle gleich aussehen.
Als Judith allmählich wieder zu Kräften kommt, erhalten sie eines Abends Besuch von Ruth und Werner Masterton. Sie essen gemeinsam und sitzen anschließend noch lange hinter den verschlossenen Türen zusammen und leeren ihre Gläser.
Hans Olofson wird betrunken. Er sagt nicht viel, sitzt in einer Ecke und hat plötzlich wieder das Gefühl, nicht dazuzugehören. Am späten Abend beschließen Ruth und Werner, bei ihnen zu übernachten. Einsame Autos sind in der letzten Zeit wieder häufiger überfallen worden, nachts ist der weiße Mann eine gehetzte Beute.
Als er zu Bett gehen will, begegnet er Judith an ihrer Zimmertür. Es kommt ihm vor, als hätte sie, die auch nicht mehr ganz nüchtern ist und deren flackernder Blick ihn an den seines Vaters erinnert, dort auf ihn gewartet.
Auf einmal streckt sie die Hand nach ihm aus, hält ihn auf, zieht ihn in ihr Zimmer, und sie lieben sich ebenso hilflos wie leidenschaftlich auf dem kühlen Steinfußboden. Während er ihren hageren Körper umarmt, denkt er an das Zimmer über ihnen, das Beinhaus der toten Tiere.
Nachher wendet sie sich von ihm ab, als hätte er sie geschlagen. Kein einziges Wort, denkt er. Wie kann man sich nur lieben, ohne ein einziges Wort zu sagen?
Am nächsten Tag, er hat einen Kater und ihm ist übel, erscheint ihm ihr Körper in der Erinnerung rauh und abstoßend. Im Morgengrauen verabschieden sie sich von Ruth und Werner. Judith weicht seinem Blick aus und zieht den Hut mit der breiten Krempe tief in die Stirn.
Ein Jahr ist vergangen.
Der nächtliche Klangteppich der Zikaden ist ihm nun so vertraut wie die Gerüche von Holzkohle, getrocknetem Fisch, Schweiß und stinkenden Müllhaufen.
Aber der schwarze Kontinent als Ganzes wird immer ungreifbarer, je mehr er zu verstehen glaubt. Er spürt, daß Afrika im Grunde kein Ganzes ist, jedenfalls nichts, was er mit seinen angestammten Vorstellungen begreifen oder sich zu eigen machen könnte.
Hier gibt es keine einfachen Losungsworte. Hier sprechen hölzerne Götter und Ahnen ebenso deutlich wie die Lebenden. Die Wahrheit der Europäer verliert in der Weite der Savanne ihre Gültigkeit.
Nach wie vor sieht er sich als einen Reisenden der Angst, nicht als zielstrebigen und wohlgerüsteten Wegbereiter. Dennoch ist er, wo er ist. Jenseits der waldigen Hügellandschaft, jenseits
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