Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
ich fürs Zuhören. Trotzdem würde es gut tun, sie hier zu haben.
Unwillkürlich wanderte mein Blick von den heute aprikosenfarbenen Rosen, die den Raum mit ihrem Duft erfüllten, an die Zimmerdecke, zwischen die Balken. Da war er wieder, der riesige Falter mit den runden Augen, die mich anstarrten. An genau derselben Stelle. Er wartete, dass ich einschlief, damit er mich ungestört belauern konnte.
„Hallo, du bist ja auch wieder da“, sagte ich schwach.
Ich musste cool bleiben und das Beste draus machen. Ungezieferüberschuss? Okay, betrachten wir die Viecher doch einfach als Haustiere, so wie Rico es tat. Das hier war meine Trainingsmotte. Wenn ich es schaffte, sie ein bisschen zu mögen, statt schreiend zur Tür zu rennen, war ich auf dem besten Weg, seine Gammaeule … wie hieß das Ding noch mal? Alf? Albert? … gebührend zu bewundern. Oder wenigstens etwas Interesse zu heucheln. Vielleicht fand dessen Besitzer mich dann auch ein bisschen interessant.
„Hey“, sagte ich versuchsweise.
Der Nachtfalter bewegte sich nicht, was ich schon mal beruhigend fand.
„Bist du sauer, weil Inga dich verjagt hat? Könnte sein, dass sie das morgen wieder tut. Der Platz ist schlecht gewählt, weißt du. Das ist mein Zimmer, und du hockst da genau über meinem Kopfkissen, was ich absolut unhöflich finde.“
Ich sprach mit Motten. Na toll.
„Wie nennen wir dich, mein Guter mit dem großen Auge? Irgendeinen Vorschlag? Äh … Sauron?“
Wenn Onkel Vincent das gewusst hätte, hätte er mich bestimmt schleunigst wieder nach Hause geschickt.
Am Beckenrand schien es mir heute überaus gemütlich, und ich wusste nicht, ob ich heute überhaupt die Energie aufbringen würde, meine Bahnen zu schwimmen. Träge entspannte ich meine müden Beine im warmen Wasser und schloss die Augen.
Nein, ich hatte nicht nach ihm Ausschau gehalten, ich hatte gar nicht mehr an ihn gedacht, ich schwör’s! Doch als ich mich umdrehte, durchzuckte mich ein Stich der Freude.
„Hey, Mottenmann.“
Da war er wieder, unter dem Baum - der Junge in dem altmodischen Anzug. Eine Wolke aus grauen Faltern schwebte um ihn herum. Möglicherweise benutzte er ein besonderes Parfüm, das sie anlockte, oder sie hatten vor, seine Klamotten zu zerfressen, die er wohl auf irgendeinem Dachboden ausgegraben hatte. Leider trug er immer noch dieselbe potthässliche Krawatte. Das heißt, an allen anderen hätte ich sie bescheuert gefunden, an ihm sah sie irgendwie sexy aus. Immer noch hatte ich Onkel Vincent nicht direkt nach ihm gefragt. Vielleicht war es der Name, der mich zurückhielt. Rico. Ein Name, den ich in diesem Haus garantiert nicht aussprechen würde.
Er beachtete mich gar nicht, sondern beugte sich über etwas, das im Gras lag.
„Mein Skizzenbuch!“ Ich war so schnell aus dem Wasser, als hätte es plötzlich angefangen zu kochen. „Finger weg!“
Er betrachtete doch tatsächlich meine Zeichnungen, die ich dort hatte liegenlassen!
„Wer ist das?“, fragte er.
Ich streckte die Hände nach meinem Block aus, dann fiel mir ein, dass ich ihn besser nicht anfassen sollte, so tropfnass wie ich war, und beschränkte mich daher darauf, Rico wütend anzufahren.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass man die Hände von fremdem Eigentum lässt?“, fauchte ich.
Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. „Du zeichnest gut“, sagte er. „Witzig. Wer soll das sein?“
„Das ist Frau Behr. Die hat mich heute den ganzen Tag herumgescheucht.“
Aus Rache hatte ich sie nicht besonders vorteilhaft dargestellt. Kleine, verkniffene Augen, ein böser Zug um den Mund. Wie eine Hexe aus dem Märchen.
„Eine Hexe aus einem Märchenbuch“, sagte er, als könnte er Gedanken lesen. Wie aufs Stichwort stieg ein Falter graziös von seinem Ärmel und setzte sich auf Frau Behrs künstlich verlängerte Nase.
Ich trat einen Schritt zurück.
„Lass das, Jennifer“, sagte Rico zu der Motte. „Wir wollen doch das Mädchen nicht verärgern.“ Und tatsächlich schien sich Jennifer für diese Aktion zu schämen, denn sie kehrte sofort auf seine Hand zurück.
Er blätterte die Seite um. „Hier ist sie wieder. Malst du gerne Hexen?“
„Eher nicht“, sagte ich. „Aber das musste sein. Dieser Tag heute, das kannst du dir nicht vorstellen!“
Schon war ich dabei, ihm alles zu erzählen. Wie ich heute Morgen aufgestanden war und Thomas, der Gärtner, mir ein altes, klappriges Fahrrad aus dem Schuppen herausgesucht hatte. Man könnte doch meinen, jemand
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