Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
hergekommen bin“, meinte ich kleinlaut.
Wenn das meine Mutter geahnt hätte! Sie hatte mir versprochen, dass ich hier den Sommer über wie in einem Fünf-Sterne-Hotel leben würde. Und okay, ganz ehrlich, ich hatte das auch erwartet.
Onkel Vincent schien nichts dabei zu finden, dass er mich so überrumpelt hatte. „Es wird dir Spaß machen“, meinte er, als gäbe es überhaupt nichts Besseres, als heiße Ferientage in einem stickigen Ladengeschäft zu verbringen. Vermutlich war das bei ihm tatsächlich der Fall. „Geld fällt nicht vom Himmel, Alicia. Ich habe von ganz unten angefangen, und es wird dir nicht schaden, ein bisschen auf dem Teppich zu bleiben.“
Na toll. Jetzt kam bestimmt wieder die Predigt über den Lohn harter Arbeit. Das kannte ich schon von zu Hause.
„Aber ich dachte … von wegen Sicherheit und so …“ Er wollte mich ohne Leibwächter ins Dorf schicken? Hier, wo jeder wusste, dass ich Riebecks Nichte war? Meine Eltern würden einen Kollaps kriegen.
Onkel Vincent lächelte. „Das Leben ist nun mal eine riskante Angelegenheit. Lebend kommt niemand hier raus. Aber beruhige dich, Alicia. Das ist ein friedliches Dorf, und das schlimmste Verbrechen, das hier ab und an vorkommt, ist Alkohol am Steuer. Ich werde dich nicht in Watte packen, und du musst dich nicht hinter Stacheldraht verstecken. Die Wahrscheinlichkeit, dass du entführt werden könntest, ist relativ gering, findest du nicht auch?“
Ich lächelte hilflos. Er hatte natürlich recht. Das Gleiche sagte ich meinen Eltern auch ständig. Die Kinder reicher Familien wurden nicht pausenlos entführt. Es kam hin und wieder vor, aber rein statistisch gesehen war es völlig unsinnig, sich deswegen zu fürchten. Da war es noch viel wahrscheinlicher, auf dem Zebrastreifen überfahren zu werden. Jedes Mal erinnerten sie mich daran, dass der Meyrink-Täter nie gefasst worden war.
Ich fühlte die Augen meines Onkels auf mir, nachdenklich, vielleicht mit einer Spur Sorge darin. Ob er wohl auch an die Vergangenheit gedacht hatte?
„Am besten warnst du deine Freundin vor“, sagte er. „Ich wette, das Mädel hat auch noch nie einen Finger krumm gemacht.“
„Ihr werdet bestimmt viel Spaß zusammen haben“, warf Sabine ein.
Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fand, dass jeder ihrer Sätze falsch klang. Was sie eigentlich sagen wollte, war: Ich hoffe, dann muss ich nicht mehr so tun, als ob ich mit dir Spaß hätte.
„Dann, ähm, mach ich das jetzt mal“, sagte ich. „Oder muss ich noch am Tisch sitzen bleiben?“
„Geh ruhig“, sagte Onkel Vincent und zwinkerte mir zu.
Staubflocken
Diesmal war Tatjana tatsächlich am anderen Ende der Leitung. Sie kreischte mir zehn Minuten lang ins Ohr, dass sie unbedingt kommen wollte. Sie sei schon am Packen. Und natürlich würden ihre Eltern das erlauben, sie hätte sowieso keine Lust gehabt, mit den beiden nach Barbados zu fliegen.
„Dann machen wir das Dorf unsicher. Oh, Liss, das wird toll! Gibt es da nette Jungs?“
„Äh“, sagte ich.
„Aaaah“, sagte sie gedehnt. „Wer ist es? Wie sieht er aus? Wie heißt er? Wie hast du ihn kennengelernt? Nun erzähl doch endlich!“
Auf einmal kam mir der Gedanke, ob Onkel Vincent wohl sämtliche Gespräche abhörte. Immerhin hatte er meine Freundinnen überprüft. Hatte er sich etwa auch über meine Hobbys und meine Schulnoten informiert? Am Ende war Rico der Detektiv, deshalb dieser undurchschaubare Blick. Das hatten Spione bestimmt drauf. Und hatte Onkel Vincent nicht etwas von einem Sicherheitsdienst gesagt? Womöglich war der süße Rico doch mein Leibwächter, obwohl er es abgestritten hatte. Deshalb hatte er mich so angesehen, so … so irgendwie. Mit diesem Blick, den ich nicht zu deuten wusste, was mich immer noch zur Weißglut brachte. Vielleicht gab es eine Akte über mich, die er gelesen hatte?
„Nicht jetzt“, versuchte ich Tatjana zu beruhigen. „Komm erst mal her, und dann zeige ich dir alles. Es gibt hier einen Pool, also vergiss deinen Bikini nicht.“
Winky kläffte ins Telefon.
„Oh meine Süße, mein Schnucki“, schnurrte Tatjana, zum Glück nicht an mich gewandt. „Möchtest du raus, Schatzilein? - Ich muss Schluss machen“, sagte sie zu mir.
Erschöpft ließ ich mich nach hinten ins Kissen fallen. Manchmal war Tatjana wirklich anstrengend. Sie wegen des Jobs vorzuwarnen, war gar nicht möglich gewesen, weil sie mich nicht zu Wort kommen ließ. Das war häufig so bei uns. Sie war fürs Reden zuständig,
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