Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
doch sie hatte ihren Schatten auf mein ganzes Leben geworfen, und daher wurde ich sie nicht los.
Sobald wir oben waren, schloss ich die Tür hinter uns und lehnte mich dagegen.
„Der Meyrink-Fall“, sagte ich. „Schon mal davon gehört?“
„Was für ein Meyrink-Fall?“, fragte sie zurück.
„Riebeck und Meyrink.“
„Wie der Laden?“ Dann begriff sie endlich. „Riebeck. Deshalb kam mir der Name so bekannt vor! Dein Onkel Vincent ist Vincent Riebeck? Von Riebeck und Meyrink ?“
„Exakt. Das hier ist das Meyrink-Schloss. Es hat den Meyrinks gehört, bis … bis er es geerbt hat.“
Tatjana setzte sich auf mein Bett. Sie nahm den riesigen Falter mit den Augenflügeln, der die Tapete hinunterkroch, gar nicht wahr, und ich wies sie nicht darauf hin.
„Da war doch …“ Sie grübelte. „Ich lese zwar manchmal Zeitung, aber das ist Jahre her, sogar vor unserer Geburt, oder? Also guck mich nicht so strafend an. Irgendwas mit einer Entführung?“
Ich nickte. „Paul Meyrink und mein Onkel hatten ein Geschäft gegründet. Meyrink hatte das Geld, altes Geld, mein Onkel die Ideen. Sie haben sich zusammengetan, ich glaube, sie haben sich beim Studium kennengelernt. Mein Vater wurde ihr Anwalt und hat sich um den rechtlichen Kram gekümmert. Sie haben alle zusammen hier gewohnt, das Haus ist ja groß genug. Paul Meyrink hatte eine Familie. Seine Freundin Angelina war Italienerin, ein Model. Bildschön. Bestimmt gibt es hier im Haus noch Fotos, dann kann ich sie dir mal zeigen. Sie hatten Zwillinge, zwei kleine Jungs. Enrico und Ricardo.“
„Rico“, sagte Tatjana. „Oh Mann, jetzt wird mir so einiges klar.“
„Sie wurden entführt“, erzählte ich. Es war so lange her und trotzdem brannten mir die Tränen in den Augen. Denn die Vergangenheit hatte meine Familie niemals losgelassen. „Die Geldübergabe ging schief. Ein Mann wurde verhaftet, später stellte sich heraus, dass er wohl nur zufällig in der Nähe gewesen war und gar nichts damit zu tun hatte. Aber etwas war an die Presse durchgesickert, und so wussten die Entführer, dass die Meyrinks sich an die Polizei gewandt hatten. Die Kinder sind nie wieder aufgetaucht. Paul und Angelina haben das nicht verkraftet. Wenig später hatten sie einen schrecklichen Unfall und sind beide gestorben.“
„Selbstmord?“, fragte Tatjana.
„Das weiß man nicht so genau. Anscheinend hatte Angelina ein starkes Beruhigungsmittel eingenommen und konnte deshalb nicht richtig geradeaus fahren. Sie hätte sich überhaupt nicht ans Steuer setzen dürfen. Vielleicht war es ein Unfall, vielleicht wollten die beiden auch nicht mehr weiterleben.“
„Oh Gott“, sagte Tatjana. „Die ganze Familie, einfach ausgelöscht.“
„Und der oder die Entführer wurden nie gefasst“, fügte ich hinzu.
„Oh“, sagte sie. „Das … das würde mir irgendwie Angst machen.“
„Was meinst du, warum ich Vanderen heiße und nicht Riebeck? Mein Vater hat kurz danach geheiratet, ich war schon unterwegs. Er hat alles getan, um nicht mit dem Namen Riebeck in Verbindung gebracht zu werden.“
„Weil der Entführer wieder zuschlagen könnte? Das ist doch äußerst unwahrscheinlich. Ich meine, es ist ja schon einmal schiefgegangen. Das müsste ja für so einen Verbrecher nicht gerade ermutigend sein.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Weiß man, was in so einem kranken Hirn vor sich geht?“
Tatjana ließ sich auf mein Kissen fallen. Die Motte erreichte gerade das Bett. „Oh Mannomann. Und die Kinder wurden nie gefunden? Vielleicht leben sie ja noch.“
„Unwahrscheinlich“, sagte ich leise. „Soviel ich weiß, wurden sie offiziell für tot erklärt.“ Und ich wurde von meinen Eltern für unsichtbar erklärt, damit mir ja nicht das Gleiche geschah.
„Dein Freund im Garten heißt Rico. Und sieht ein bisschen italienisch aus, wenn ich deiner Beschreibung trauen darf.“
„Ja“, sagte ich.
„Das kann doch kein Zufall sein!“ Sie richtete sich wieder auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Motte Sauron bewegte die Fühler. Er hatte auch einen kleinen Rüssel. „Was, wenn er eins dieser verschwundenen Kinder ist? Wenn sie noch leben? Hast du daran schon mal gedacht?“
„Natürlich“, sagte ich. „Das Alter stimmt sogar, schätze ich. Wenn die Jungs damals zwei waren, und es ist sechzehn Jahre her - das kann ich mir immer gut merken, weil ich weiß, dass meine Mutter zu jener Zeit mit mir schwanger war -, wären sie jetzt siebzehn, achtzehn. Klar,
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