Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
über mich, es anzuschauen. Ich hatte keine Zeit, um über Rico zu weinen. Stattdessen ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Konnte man an einem Zimmer erkennen, was für ein Mensch sein Besitzer war?
Die Bücher waren ein Sympathiefaktor, der natürlich täuschen konnte. Die Ledereinbände machten eindeutig etwas her. Hatte er sie nur, um damit anzugeben? Ich wanderte am Regal entlang und fand hinter einer Pflanze mit großen Blättern ein Fach, in dem zerfledderte Taschenbücher und Bücher mit zerrissenen Umschlägen standen. Ah, die nicht so ansehnlichen Exemplare hatte er also versteckt. Waren das wohl die Bücher, die er wirklich las? Nein, offenbar bewahrte er hier die Überbleibsel aus seiner Jugendzeit auf. Robinson Crusoe. Gullivers Reisen. Die Schatzinsel. Winnetou. Nichts davon hatte ich je gelesen, aber es rührte mich irgendwie, dass Onkel Vincent diese Bücher behalten hatte. Was sagte das über ihn aus? Dass er in seinem Herzen immer noch der Junge war, der Abenteuergeschichten liebte?
Mein Vater machte um alle Bücher einen weiten Bogen, solange es sich nicht um Fachliteratur handelte. Meine Oma, die immer für rätselhafte, weise klingende Sprüche gut war, hatte einmal gemeint, er hätte Angst, in einem Buch seine Seele gespiegelt zu sehen und zu erschrecken.
Aber vielleicht hatte auch Onkel Vincent Angst davor und versteckte sich, irgendwo zwischen den Jugendklassikern und den kostbaren Büchern, die nur zur Zierde dienten.
Er hatte keine Kinder. Keine Haustiere. Keine Frau. Ich war mir nicht sicher, wie er zu Sabine stand. Ob sie seine Freundin war? Wenn, dann verbargen die zwei das jedenfalls hervorragend.
„Alicia?“
Lautlos war er ins Zimmer getreten. Ich erschrak darüber, wie alt und müde Onkel Vincent wirkte. In diesem Moment war nichts mehr von dem blendend gelaunten, sonnengebräunten Segler übrig. Das Schlimmste war vielleicht, dass er in diesem Moment wirklich wie der Bruder meines Vaters aussah.
„Was machst du hier?“ Es klang nicht vorwurfsvoll, deshalb suchte ich nicht nach Ausflüchten.
„Ich denke nach. Über unsere Familie.“ Ich zeigte auf die Bücher, die ich entdeckt hatte. „Was war dein Lieblingsbuch?“
„ Die Schatzinsel. Und deins?“
„Ich habe kein Lieblingsbuch.“
„Oh, wie schade. Viele gute Bekannte, aber keine echten Freunde.“
Ich lächelte gegen meinen Willen. „Ja, irgendwie so ist es auch. Jedenfalls, was Bücher angeht.“ Ich dachte an meine Oma und meinen Vater, an meine Mutter und ihre reichen Freundinnen und an die Traurigkeit über unserem Haus. „Kann man in Büchern seine Seele finden?“
„Das klingt nach meiner Mutter“, sagte er und lächelte auf einmal. Sechzehn schwere Jahre verschwanden aus seinem Gesicht. „Das hat deine Oma gesagt, stimmt’s? Und jetzt suchst du nach einem Buch in meinem Schrank, das dir verrät, wer ich bin. Was ich getan haben könnte. Wenn du jetzt Dorian Gray finden würdest, wäre ich dann schuldig? Oder muss es noch finsterer sein? Die Elixiere des Teufels vielleicht?“
„Kenne ich beide nicht“, sagte ich kleinlaut.
„Und wenn ich Heidi lese, wäre ich rein und unschuldig?“
„Oh, ich glaube, Heidi würde dich erst recht verdächtig machen.“
Wir lachten beide, und es tat beinahe weh, wie gut wir uns verstanden.
„Ich möchte hier bleiben, Onkel Vincent. Darf ich? Bitte.“
„Willst du wirklich Schauspielerin werden?“, fragte er.
Ich brauchte eine Weile, bis ich darauf kam, worauf er anspielte. Dass ich ja angeblich im Garten meine Rolle geübt hatte, statt mit einem Geist zu sprechen.
„Nein. Ich will Cartoons zeichnen.“
Er blinzelte überrascht. „Wirklich? Oh, das Talent zum Zeichnen liegt bei uns in der Familie. Mein Vater hat Porträts in Öl gemalt. Wenn du mal bei deiner Oma bist, frag sie ruhig danach.“
„Soll ich dir mein Skizzenbuch zeigen?“, platzte ich heraus.
Und auf einmal war das Glück wieder da. Ich war nicht im Haus eines Mörders. Alles würde gut werden. In diesem Moment glaubte ich fest daran, dass sich alles aufklären konnte.
Ich zog den Block aus meiner Umhängetasche, und wir setzten uns einfach auf den Teppich vor der großen Glastür, die genügend Licht hereinließ.
„Hier lese ich manchmal“, gestand Onkel Vincent. „Selten genug, aber ab und zu nehme ich mir die Freiheit.“
„Auf dem Teppich?“
„Nun ja, so wie früher. Liest du denn nie auf dem Boden?“
Er lachte über die Tauben. Grinste, als er Frau
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