Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
bringe meine Tochter hier weg, ehe es zu spät ist. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass sie herkommt. Solche wie du ändern sich nicht.“
„Du nennst mich einen Mörder?“ Onkel Vincents Stimme klang bitter. Ich stand in der Eingangshalle, ohne mich zu rühren, aber selbst bis zu mir drang das Gefühl von Eiseskälte, als würde alles im Raum zersplittern, wenn man es berührte.
„Und ob ich das tue“, sagte mein Vater. „Ich habe lange genug geschwiegen. Für dich. Für meine Familie. Für uns alle. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Du hast mein Leben zerstört, aber ich werde nicht erlauben, dass du Alicias Leben zerstörst.“
„Es gab eine Zeit, da hast du mir geglaubt“, sagte Onkel Vincent leise. „Als alle mich verdächtigten … da hast du zu mir gehalten.“
„Oh ja.“ Auch die Stimme meines Vaters war von Bitterkeit getränkt. „Ich habe zu dir gehalten. Und wie. All die Jahre habe ich dich gedeckt. Aber irgendwann ist Schluss. Verstehst du? Ich kann nicht mehr. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke und mich und dich und das Schicksal verfluche. Was ich getan habe …“
„Ja?“, fragte Onkel Vincent scharf. „Was hast du denn getan?“
Ich konnte nicht atmen.
„Das wirst du nie erfahren“, flüsterte mein Vater.
Es war still im Raum.
Und ich nahm alles so deutlich wahr wie nie zuvor. Die große Standuhr im Flur tickte. Von draußen hörte ich die Stimmen von Thomas und Andi. Aus der Küche kam ein Zischen, wie wenn etwas in heißes Fett gelegt wird.
Die Uhr tickte und mein Herz schlug. Dann seufzte Onkel Vincent.
„Geh und nimm Alicia mit.“ Er klang erschöpft, wie jemand, der aufgegeben hatte. „Ich will niemanden in meinem Haus haben, der mich für einen Mörder hält.“
„Ich halte dich nicht bloß dafür. Ich weiß es.“
„Aber …“
„Ich weiß es“, wiederholte mein Vater. „Denn ich habe das zweite Kind gefunden. Einen der Jungen, hier in unserem Garten. Ich habe ihn weggebracht, aus deiner Reichweite. Dorthin, wo du ihn nie finden würdest.“
Ich ließ den Griff des Trolleys los, und der Koffer krachte auf die Marmorfliesen. Der dumpfe Schlag schreckte die beiden Männer auf, und mein Vater erschien am Durchgang zum Wohnzimmer.
„Alicia …“
Ich drehte mich um und rannte.
Ich stürmte zur Vordertür hinaus. Ohne darüber nachzudenken, wo ich eigentlich hinwollte, holte ich mein Fahrrad aus der offenen Garage. Wenig später war ich schon auf der Straße. Immer wieder blickte ich mich um; hier konnte mich ein Auto sofort einholen. Da war zum Glück schon der Trampelpfad durch den Wald. Ich bog ab und holperte über den steinigen Weg. Als ich das Dorf erreichte, weinte ich nicht mehr, aber in meiner Brust saß ein dunkler Klumpen aus Wut und Traurigkeit.
Automatisch radelte ich zum Laden. Erst als ich mein Spiegelbild im Schaufenster sah, wurde mir bewusst, wo ich war. Nein, ganz schlecht. Frau Behr würde im Schloss anrufen. Oder vielleicht hatte Onkel Vincent ihr schon Bescheid gegeben, dass ich unterwegs war.
Ich trat wieder in die Pedale. Wo konnte ich sonst hin? Ich fuhr zu dem einzigen anderen Ort im Dorf, den ich kannte - zu Silvios Restaurant. Luisa war gerade draußen und stellte die Menükarten auf.
„Er ist nicht da“, sagte sie, bevor ich fragen konnte. „Es gab einen Riesenstreit. Da drin herrscht ganz schön dicke Luft, wenn du verstehst.“
Das tat ich nicht. Es interessierte mich auch nicht. Die Stimmen in meinem Kopf waren zu laut. Onkel Vincent hatte die Jungen entführt, und mein Vater hatte den kleinen Ricardo gefunden und weggebracht. Und geschwiegen. Wie hatte er das nur für sich behalten können? Warum hatte er das Kind nicht den Meyrinks zurückgegeben - oder waren diese zu jenem Zeitpunkt schon tot gewesen?
„Wer hatte Streit? Luca?“, fragte ich, als mir bewusst wurde, dass Luisa mich erwartungsvoll ansah.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was die sich alles an den Kopf geworfen haben. Also, ich an deiner Stelle würde ihn in Ruhe lassen.“
Familienstreitigkeiten schienen heute in der Luft zu liegen. Fast hätte ich darüber lachen können. Als wenn das, was zwischen meinem Vater und seinem Bruder vorgefallen war, ein gewöhnlicher Streit gewesen wäre. Wieder kamen mir die Tränen. Hätte ich das bloß nie mit angehört! Ich sehnte mich danach, es nicht zu wissen, es aus meinem Kopf zu löschen, dieses Schreckliche. Als könnte ich es damit ungeschehen machen.
Onkel Vincent gehörte
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