Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Taschentuch und hoffte, dass Luca es nicht mitbekam. Immerhin tat er so, als würde er den Sing- und Tanzfilm, in den wir geraten waren, äußerst faszinierend finden.
Schließlich war auch diese Vorstellung zu Ende. Draußen schien immer noch die Sonne, und ich fand die Helligkeit unerträglich.
„Ich glaube, ich geh jetzt nach Hause“, sagte Luca zögernd.
„Jetzt schon?“, rief ich in Panik.
„Hey, ich war fast den ganzen Tag weg. Es wird Zeit. Ich hab mich beruhigt. Ich schätze, ich kann meinen Eltern jetzt gegenübertreten, ohne dass ich gleich wieder was Gemeines sage. Hoffe ich“, fügte er hinzu. „Musst du nicht auch langsam los?“
„Gut, dann … dann fahre ich jetzt. Hältst du mal kurz?“ Ich drückte ihm meine Tasche in den Arm und schloss mein Rad auf. Noch einmal drehte ich mich zu ihm um.
„Ich weiß, wie dein Traum endet“, sagte ich. „Du kletterst nach oben, den Motten nach, ins Licht. Hinter dir ist die Dunkelheit. Dort unten lässt du deinen Bruder zurück. Er ruft nach dir und weint. Es ist sein Weinen, Luca, Ricos Weinen, das du in deinen Träumen hörst. Er ist es, den du vermisst. Er ist der Junge mit den Faltern.“
Dann trat ich in die Pedale und raste davon.
„He! Liss!“, rief er mir nach.
Ich drehte mich nur einmal zu ihm um. „Schau rein, wenn du dich traust!“
Er würde die Fotos finden. Sich vielleicht in einem der kleinen Jungen erkennen. Vielleicht würden ihm die Gesichter seiner echten Eltern vertraut vorkommen, vor allem die Augen seiner Mutter, die den seinen so glichen. Mehr konnte ich nicht für ihn tun.
Das Herz der Finsternis
Als ich das Nebentor aufschloss und mein Rad hindurchschob, hatte ich mehr als bloß ein schlechtes Gefühl. Ich kehrte ins Haus eines Mörders zurück. Und mein Vater, zu dem ich ins Auto steigen würde, war nicht viel besser.
Am liebsten wäre ich weggelaufen. So weit wie möglich. Doch ich war erst sechzehn - wo sollte ich denn hin? Wenn man mich aufgriff und mit Gewalt zurückbrachte, wurde alles noch schlimmer. Und wenn ich der Polizei erzählte, was ich wusste, würden sie mich nach Beweisen fragen. Mich, das Mädchen, das sich um ein Haar vom Dach gestürzt hatte und sich Freunde einbildete, wo keine waren. Keine gute Voraussetzung, um Gehör zu finden.
Alles war still. Jedenfalls warteten sie nicht händeringend auf mich. Komisch eigentlich, diese Stille. Und etwas fehlte - der Wagen meines Vaters war verschwunden.
Er war ohne mich weggefahren? Mit allem hatte ich gerechnet. Mit Vorwürfen, Erklärungsversuchen und dass er mich beschwören würde, niemandem etwas zu verraten. Aber nicht damit, dass er einfach abhaute und mich mit einem Mörder alleinließ.
Ich fuhr bis zur Garage, um das Fahrrad wegzubringen, aber anders als sonst waren die Tore geschlossen. Was hatte das jetzt schon wieder zu bedeuten? Waren sie beide geflohen, weil sie befürchteten, ich würde mit einer ganzen Armee anrücken?
Ich schob mein Rad um die Garage herum und warf einen Blick durch die Fensterscheibe, um zu sehen, welchen Wagen Onkel Vincent genommen hatte. Doch das Erste, worauf mein Blick fiel, war unser silberner Mercedes. Also war mein Vater gar nicht weggefahren, sondern immer noch hier. Hatte er sich entschlossen zu bleiben, bis ich wieder da war? Worüber die beiden Brüder wohl die ganze Zeit redeten? Schwelgten sie in Erinnerungen, was sie den Meyrinks angetan hatten?
Ich ging die Stufen hinauf und schloss die Tür auf.
Auch hier empfing mich Stille. Eine angespannte, feindselige, unheimliche Stille.
„Papa?“, fragte ich vorsichtig. Meine Mutter hatte einige Jahre lang verlangt, dass ich „Vati“ sagen sollte, weil das in ihren Ohren besser klang. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, darauf herumzureiten, denn für mich war mein Vater immer nur Papa gewesen. Mein über alles geliebter, ernster, düsterer, trauriger Papa hatte ein Kind in Italien ausgesetzt und ein schreckliches Verbrechen gedeckt.
Deswegen hatte er den Namen „Riebeck“ also abgelegt. Nicht, weil er Angst um mich hatte. Warum auch, wenn er doch den Entführer der Millionärskinder bestens kannte? Nein, um sich von seinem Bruder abzugrenzen, dessen Tat er nicht verzeihen konnte. Erst hatte er mitgemacht und ihm dann gegrollt. Und geschwiegen, immer nur geschwiegen.
Dafür hasste ich ihn.
„Papa? Onkel Vincent?“
Ich spähte ins Wohnzimmer. In den Essbereich. Die Küche war verwaist. Durch die Terrassentür schaute ich in den Garten, doch
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