Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Fluchtpläne wirbelten durch mein Hirn. Ich musste ins Dorf zurück. Nein, zuerst ins Haus und nach meinem Vater sehen. Und dann Hilfe anfordern. Vielleicht hatte ich im Dunkeln eine bessere Chance? Doch so lange musste ich mich irgendwo verstecken.
„Was ist los?“ Urplötzlich stand Rico neben mir.
Ich hätte heulen können vor Erleichterung.
„Onkel Vincent war es doch“, sagte ich. „Er hat meinen Vater niedergeschlagen, hoffe ich. Ich meine, ich hoffe, dass er nicht tot ist. Und nun ist mein Onkel hinter mir her.“
Er starrte mich einen Moment lang ungläubig an, nachdem ich alles heruntergerasselt hatte, und sagte dann: „Oh, Alicia.“
„Würdest du für mich nachsehen, was mit meinem Vater ist?“, flehte ich.
„Ich kann nicht ins Haus. Das konnte ich noch nie, es geht einfach nicht.“
„Du hast gesagt, dass du mit den Nachtfaltern verbunden bist. Was ist mit den Faltern in Tatjanas Zimmer?“
Die putzsüchtigen Frauen hatten bestimmt nicht alle weggescheucht.
„Sie schlafen noch. Warte.“ Rico schloss die Augen. „Ich kann sie nicht lenken, es ist schwierig … Da! Ich kann ihn sehen. Da liegt ein Mann auf dem Boden.“
„Und? Lebt er?“
„Er bewegt sich nicht“, sagte er leise. „Mehr kann ich dir nicht sagen.“
„Ich muss zu ihm!“
„Im Gegenteil“, widersprach Rico. „Du musst weg hier, zurück ins Dorf.“
„Sobald ich mich dem Haus nähere, wird mein Onkel mich sehen. Die Einfahrt ist lang, ich weiß nicht, ob ich es bis zur Straße schaffe.“ Mir fiel mein Fahrrad ein. Wenn ich bis zum Schuppen rannte, mich darauf schwang und zum Tor raste, war mein Vorsprung vielleicht groß genug. Bis Onkel Vincent aus dem Haus gelaufen kam, war ich schon fast auf der Straße. Seine teuren Autos nützten ihm nichts, denn wenn ich die Abkürzung nahm, war ich schneller.
„Bitte“, drängte Rico. „Leg dich nicht mit einem Mörder an!“
„Würdest du überprüfen, ob die Einfahrt frei ist?“
„Ich kann nicht“, sagte er wieder. „Ich bin immer nur hier hinten im Garten. Aber du musst es versuchen, Alicia. Jetzt. Mir graut bei dem Gedanken, dass du ganz allein mit einem Mörder bist.“
Mir ehrlich gesagt auch.
„Sei tapfer“, flüsterte er.
Ich nickte.
Rico ging vor, zwischen den Rabatten hindurch, und winkte mir von dort zu.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und sprintete los. Noch nie war ich so schnell gelaufen. Ich hetzte zwischen den Blumenbeeten hindurch, zum Gärtnerschuppen, wollte mir mein Rad schnappen - aber es war weg.
Einen Moment stand ich da wie angewurzelt. Dann hörte ich hinter mir die Stimme meines Onkels.
„Alicia? Bist du da?“
Ich hatte Glück, dass er über die Terrasse kam, statt vorne auf der Einfahrt auf mich zu lauern. Nun musste ich auch ohne Rad schnell genug sein. Ohne zu zögern schlüpfte ich zwischen Schuppen und Garage hindurch, auf die ungeschützte Einfahrt. Auf dem Kies rutschte ich aus, sprang aber sofort wieder hoch und rannte weiter. Es war ein Fehler, zurückzublicken, denn schon tauchte die hochgewachsene Gestalt meines Onkels auf, und vor Schreck kam ich ins Straucheln. Irgendwie fing ich mich rechtzeitig ab und hetzte weiter. Das Tor schien kilometerweit entfernt zu sein. Im Laufen fingerte ich nach dem Schlüssel, der mir aus den schweißnassen Händen rutschte. Ich unterdrückte ein Schluchzen, als ich anhielt und über den Kies schlitterte. Rasch ein Blick zurück, während ich mich nach dem Schlüssel bückte. Ich hatte erwartet, dass Onkel Vincent mir wie ein wutschnaubender Stier nachstürmte, doch zu meiner Überraschung lag die Auffahrt still und verlassen da. Zögernd hob ich den Schlüssel auf und bewegte mich rückwärts aufs Nebentor zu. Meine Hand tastete nach der Klinke. Immer noch war niemand zu sehen. Ich wagte kaum, dem Anschein zu trauen. Er ließ mich entkommen? Einfach so?
In fieberhafter Eile wollte ich aufschließen, und dann sah ich es. Jemand hatte das Schloss so verbogen, dass es unmöglich war, den Schlüssel hineinzustecken. Ich rüttelte an der Klinke, aber das Tor ließ sich nicht öffnen. Kein Wunder, dass Vincent Riebeck mich nicht verfolgt hatte: Ich konnte gar nicht fliehen.
Einen Moment lang dachte ich, mir würde schwarz vor Augen werden vor Angst und Entsetzen. Doch ich fiel nicht in Ohnmacht. Mein Körper wusste, dass ich das hier durchstehen musste. Also zurück zu meinem ursprünglichen Plan, mich im Dunkeln zu verstecken. Die Dämmerung kündigte sich schon an, ein paar
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