Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Kinderfilm gerieten, musste bedeuten, dass er mit mir zusammen sein wollte, egal, was er dafür in Kauf nehmen musste. Das war zugleich schön und beunruhigend. Aber vielleicht mochte er auch bloß nicht allein sein.
„Und bis dahin? Zum Chinesen?“
„Ich komme mir vor wie ein Verräter.“ Er grinste.
Gut. Sehr gut. Hauptsache, er wurde wieder locker und vergaß meine wilden Geschichten.
Wir gingen also zum Chinesen, und ich gestand ihm, dass ich sowieso lieber frittiertes Hähnchen mit Reis mochte als Pizza. Und diese Soße …
Ich runzelte die Stirn.
„Was?“, fragte er.
„Die ist aus dem Glas“, flüsterte ich. „Von Riebeck und Meyrink . Sie haben sie bloß mit etwas Gemüse aufgepeppt. Den Geschmack erkenne ich sofort wieder.“
Auch der Name „Meyrink“ stimmte ihn nicht wieder traurig, denn er bedeutete ihm nichts. Luca war weit davon entfernt, mir zu glauben, und so konnten wir unbeschwert lachen, bis die kleine, zierliche Chinesin, die uns bediente, verstohlen zu uns herübersah.
„Hey, wir könnten unser eigenes Restaurant aufmachen“, meinte er. „Da gibt es dann das ganze Zeug aus eurem Laden, stilecht serviert auf Tellern mit Goldrand. Man muss nicht mal kochen können. Aber das Ambiente sollte schon passen.“
Weil wir so viel redeten, brauchten wir Stunden, bis wir beim Nachtisch angelangt waren. Da war es bis zur Kinovorstellung nicht mehr lange hin, und wir schlenderten durch die Straßen, bis wir das Dorfkino erreichten. Zu meiner Überraschung gab es sogar Popcorn, aber ich war so voll, dass ich dankend verzichtete. Der Film lief an mir vorbei, ohne dass ich viel davon mitbekam. Während Lucas Hand nach meiner tastete und ich vor dem Dilemma stand, ob ich es zulassen und ihn damit ermutigen sollte. Schließlich war ich in seinen Bruder verliebt. Würde es Luca helfen, mir zu glauben? Doch ich wollte nicht mit seinen Gefühlen spielen, daher zog ich meine Hand rechtzeitig zurück.
Nach dem Abspann schlug ich vor, dass wir uns auch den nächsten Film ansehen könnten. Während auf der Leinwand die trotteligen Helden von einem Abenteuer ins nächste stolperten, hatte ich darüber nachgegrübelt, was ich tun sollte, und war immer noch nicht weitergekommen.
Luca lachte. „Du kriegst ja gar nicht genug, was?“
„Da wollte ich schon immer mal rein, bei uns zu Hause habe ich ihn verpasst“, sagte ich, ohne das Plakat überhaupt anzusehen.
Er grinste. Ich konnte nicht umhin, das Strahlen in seinem Gesicht mit Ricos scheuem Lächeln zu vergleichen. Luca hatte viel in seinem Leben gelacht, das merkte man. Er war geübt darin. Selbst die schockierende Entdeckung über seine Familie würde seine Fähigkeit, glücklich zu sein, nicht dauerhaft beeinträchtigen können. Er war dieser Typ, der gerne lachte und viele Freunde hatte und dem die Mädchen hinterherschauten. Ob ich es wollte oder nicht, er war mein Held, mein Lebensretter. Ich mochte ihn, aber er war nicht Rico. Was er auch tat und wie viel er auch lächelte, nichts konnte das ändern.
„Die Seele“, sagte er.
„Was?“
„Schmetterlinge. Sie sind die Seele.“
Ich starrte ihn an und versuchte, mir einen Reim daraus zu machen, brachte aber wieder bloß ein „Äh, was?“ heraus.
„Die Psyche. Die Griechen hatten dasselbe Wort für Seele und Schmetterling. Wusstest du das?“
Dieser Junge schaffte es immer wieder, mich zu überraschen.
„Manchmal“, meinte er leise, „kommt es mir vor, als würde mir ein Teil meiner Seele fehlen. Als wäre ich irgendwie nicht vollständig. Als müsste da etwas sein … oder jemand. Wenn ich mich mit den Faltern beschäftige, ist dieses Gefühl fort, dann bin ich ruhig. Dann bin ich ganz ich. Verrückt, oder?“
„Dein toter Bruder hat mir gesagt …“, fing ich an, aber Luca schüttelte den Kopf.
„Vielleicht bist du ja noch verrückter als ich“, murmelte er.
Während des zweiten Films versuchte ich mir einen Plan zurechtzulegen, wie ich Luca überzeugen wollte und was ich wegen Onkel Vincent unternehmen konnte. Würde man eine Untersuchung durchführen, nur weil ich es verlangte? Für einen Gentest würde man wahrscheinlich das Grab der Meyrinks öffnen müssen. Da brauchte ich schon mehr als nur die Behauptung, dass ich ein Geständnis mit angehört hatte - was mein Vater garantiert leugnen würde.
Mein Problem war wie ein dunkles, wimmelndes Knäuel giftiger Schlangen in meiner Brust. Der Knoten löste sich einfach nicht auf. Ich weinte lautlos in mein
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