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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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nicht ins Schloss der Meyrinks, sondern ins Gefängnis. Was, wenn er auf die Idee kam, Luca könnte Angelinas Sohn sein? Wie dumm war ich gewesen! Ich hatte ihm die Zeichnung von Rico gezeigt, und das Gesicht war ihm bekannt vorgekommen. Da hatte er noch geglaubt, dass beide Kinder tot waren. Jetzt wusste er, dass eins überlebt hatte. Ich musste Luca finden, bevor es jemand anderes tat. Am liebsten hätte ich gleich wieder losgeheult. Doch ich riss mich zusammen und erinnerte mich daran, dass ich die Nummer dieses Jungen in meinem neuen Handy gespeichert hatte. Nach kurzem Zögern schickte ich ihm eine SMS. Ich fragte ihn nur, wo er war, sonst nichts.
    Die Antwort kam prompt: „Park hinter der Grundschule.“
    Ich nahm an, das sollte wohl eine Aufforderung sein, dort hinzukommen, also fragte ich ein paar Kinder nach der Schule. Nach kurzer Zeit hatte ich sowohl das Gebäude als auch die Grünfläche dahinter gefunden, einen winzigen Park mit Ententeich und ein paar Bänken. Auf der Lehne einer dieser Bänke saß Luca, die Füße auf der Sitzfläche, und starrte vor sich hin. Heute sah er so verloren aus wie Rico.
    „Hey“, sagte ich.
    „Das ging aber schnell.“ Mir schien, dass auch er geweint hatte.
    Ich musste es ihm sagen. Aber sobald ich den Mund öffnete, überfiel mich die Angst mit solcher Macht, dass ich nichts herausbekam. Schließlich ließ ich mich auf die Bank sinken und stützte das Gesicht in beide Hände.
    Was würde geschehen, wenn ich ihm alles verriet? Die Polizei würde Onkel Vincent verhaften. Und meinen Vater wahrscheinlich auch. Konnte ich zulassen, dass das geschah? Meinen eigenen Vater? Immerhin hatte er Luca gerettet. Wie konnte ich meine ganze Welt zerstören und alle ins Unglück stürzen, die ich liebte?
    Für wen? Für diesen fremden Jungen? Dem alles gehörte, von dem ich gedacht hatte, es würde mir gehören? Für ihn, der mit Tatjana geflirtet und mich gar nicht beachtet hatte? Rico hatte recht gehabt. Luca war glücklich in der Pizzeria, mit seinen Eltern. War es wirklich nötig, ihm zu sagen, wer er war? Vor allem, wenn ich damit meine eigene Familie an den Pranger stellte?
    „Woher wusstest du es?“, fragte er unvermittelt.
    „Was?“
    „Dass ich adoptiert bin? Wie konntest du das wissen?“
    Ich schnappte nach Luft. „Darum ging es in dem Streit? Luisa sagte, bei euch wäre es ziemlich hoch hergegangen.“
    „Ja“, sagte Luca. „Genau darum ging es. Ich hab einfach mal gefragt. Nur so. Nicht, dass ich es geglaubt hätte. Aber dann hat mein Vater … nun, er ist ja gar nicht mein Vater. Er war es nie. Er hat so komisch reagiert, dass ich nachgehakt habe. Dann kam meine Mutter dazu … Ach, auch sie ist ja gar nicht meine Mutter. Fast hätte ich es vergessen. Dass ich bei Leuten gewohnt habe, die mich mein ganzes Leben lang belogen haben. Ich bin nicht Luca Testa. Das bin ich nie gewesen. Aber wer bin ich dann?“
    Ich hatte meine Tasche immer dabei. Mit dem Skizzenblock. Und ich schleppte immer noch die alten Pressefotos von den Meyrinks mit mir herum. Ich hätte sie ihm zeigen können. Ich hätte ihm sagen können: Du bist Ricardo Meyrink, dein Bruder ist tot und deine Eltern haben den Kummer nicht verkraftet, und übrigens, meine Familie hat sie alle auf dem Gewissen.
    Ich hätte ihn nicht suchen sollen.
    Was mache ich jetzt bloß?, schrie ich innerlich, aber niemand antwortete mir. Ich wünschte mir, Rico wäre bei mir gewesen.
    „Du hast gesagt, du kennst jemanden, der aussieht wie ich. Wer ist das?“
    „Das glaubst du sowieso nicht“, sagte ich schwach.
    Dann brach das Weinen aus mir heraus. Schluchzer schüttelten mich so, dass ich nicht sprechen konnte. Mein Onkel war ein Mörder, und mein Vater hatte ihn gedeckt und sich zum Mitschuldigen gemacht. Wie sollte ich damit leben?
    „Ist ja gut, hey, ist ja gut.“ Luca rutschte neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. „Jetzt wein doch nicht so, du machst mir ja Angst.“
    Es machte mir selbst Angst. Alles. Dass diese Entscheidung nun auf meinen Schultern lag. Was sollte ich tun? Ja, es machte mir Angst, dass ich auch nur in Erwägung gezogen hatte, Luca zu belügen. Er war in Gefahr. Wenn mein Onkel die richtigen Schlüsse zog, in sehr großer Gefahr.
    Ich nahm das Taschentuch, das Luca mir reichte, und schnäuzte mich ausgiebig. Dann trocknete ich mein Gesicht ab und versuchte, wieder Luft zu bekommen. Ich musste jetzt stark sein. Ganz stark. Oder ich würde so enden wie mein Vater, gequält von

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