Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
weder von Thomas noch von Andi war etwas zu sehen. Wo waren denn alle?
Der Überwachungsraum, natürlich! Ich eilte durch den Flur darauf zu. Halb erwartete ich, ihn abgeschlossen vorzufinden, aber die Tür war bloß angelehnt. Auch hier nichts als Stille. Nicht einmal auf den Bildschirmen bewegte sich etwas. Im Garten war niemand. Im Haus gab es nur wenige Kameras, oben in einem großen Saal, in dem ich noch nicht gewesen war, das dort war der Flur, in dem die Gästezimmer lagen … Oh. Die Tür zu meinem Zimmer stand auf. Etwas Dunkles lag auf der Schwelle. Ich wusste nicht, wie man das Bild näher heranzoomen konnte, daher näherte ich meine Nase dem Schirm.
„Das … oh nein.“ Es war ein Schuh. Genauer gesagt, zwei Schuhe, mit dem Ansatz eines Hosenbeins, das gerade noch zu sehen war. In meinem Zimmer lag jemand auf dem Boden, dessen Beine in den Flur hineinragten. Ich kannte diese Schuhe. „Papa“, flüsterte ich.
Eine Bewegung auf einem anderen Bildschirm lenkte mich ab. Onkel Vincent! Er befand sich im Flur im Erdgeschoss. Da hörte ich ihn auch schon durch die Tür, wie er nach mir rief. Gleich würde er dieses Zimmer erreichen.
„Alicia! Alicia, ich weiß, dass du wieder da bist, ich hab dich gehört. Jetzt sei nicht dumm, versteck dich nicht vor mir! Lass uns reden.“
Behutsam schob ich die Tür auf, die glücklicherweise nicht knarrte, und schlich hinaus auf den Gang. Ich hatte gehofft, ich würde schnell genug sein, um ins Wohnzimmer zu huschen, bevor er mich sah, aber ich hatte mich getäuscht.
„Alicia, warte!“
Ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern rannte, so schnell mich meine Beine trugen.
Ins Esszimmer, auf die Terrasse und nach draußen. Die Rosenhecke am Swimmingpool war dicht genug, um sich darin zu verstecken. Ich zwängte mich zwischen die Sträucher, mein Kleid zerriss und die Dornen zerrten an meinen Haaren. Meine zerkratzten Arme brannten. Ich biss mir auf die Lippen und duckte mich. Mein Herz hämmerte wie verrückt.
„Alicia!“ Onkel Vincents Stimme klang erschreckend nah. „Alicia, lauf nicht weg!“
Ich wagte nicht zu atmen. Durch die Zweige versuchte ich, seinen Standort auszumachen, aber ich konnte nichts sehen.
„Alicia!“ Er klang ehrlich verzweifelt.
Bestimmt befürchtete er, dass ich die Polizei anrief. Was ich jetzt auch sofort tun sollte. Ich tastete nach meinem Handy. Wo hatte ich bloß meine Tasche? Siedend heiß fiel mir ein, dass ich sie bei Luca gelassen hatte. Um irgendwo anzurufen, musste ich zurück ins Gebäude, ans Haustelefon. Aber wenn ich meine Deckung verließ, würde Onkel Vincent mich sehen.
„Alicia! Oh bitte, Mädchen, lauf nicht vor mir weg. Tu mir das nicht an!“
Seine Stimme war jetzt sanfter, einschmeichelnder. „Du irrst dich, mein Schatz. Was dein Vater gesagt hat, hat dich erschreckt. Aber es war alles ganz anders, bitte vertrau mir!“
„Wer’s glaubt“, flüsterte ich und biss mir auf die Lippen, denn schon hörte ich seine Schritte auf dem gepflasterten Weg auf der anderen Seite der Hecke.
„Alicia, ich bin kein Mörder! Wie kannst du das von mir denken?“
Ich wollte ihm ja gerne glauben. So sehr wünschte ich mir, dass er die Wahrheit sagte, dass ich mich am liebsten in seine Umarmung geflüchtet hätte. Seine Stimme hatte etwas Einnehmendes, etwas, das meine Angst auslöschen wollte. Aber ich hatte die Schuhe meines Vaters gesehen, und um nichts in der Welt würde ich mich von Onkel Vincent erwischen lassen.
O nein! Ein schwarzer Fetzen von meinem Rock hing zwischen den Dornen. Er würde ihn entdecken, wenn er vorbeikam, kein Zweifel. Ich musste hier weg.
Mir war klar, dass er mich sehen konnte, wenn ich über die Wiese lief, aber ich hatte keine Wahl. Ich atmete tief durch, spannte die Muskeln an und rannte los, am Pool vorbei und über das Gras zum Wäldchen. Um keine Sekunde zu verlieren, schaute ich mich nicht um, sondern flog förmlich auf den nächststehenden Baum zu. Nach Luft ringend drückte ich mich an die Rückseite des Stammes. Mein Herz polterte so wild in meiner Brust, dass ich fast ohnmächtig wurde.
Vorsichtig, während mir das Blut in den Ohren rauschte, spähte ich um den Baum herum.
Onkel Vincent stand am Pool und starrte ins Wasser. Als er sich abrupt wegdrehte und wieder davonmarschierte, war ich zunächst erleichtert. Dann fiel mir ein, dass sein Ziel höchstwahrscheinlich der Überwachungsraum war.
Konnte ich mich an jede Kamera im Garten erinnern? Nein, konnte ich nicht.
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