Das Auge des Sehers (German Edition)
Astrologie glaubt. Ihr, die sonst nur einen Gott kennt, nämlich die Wissenschaft.»
«So nicht, mein Lieber! Astrologen gab es schon im Altertum. Hinter der Lehre steckt eine Forschung, eine Entwicklung über Jahrtausende. Es gab sogar an Universitäten Lehrstühle für Astrologie.»
«Die dann abgeschafft wurden, weil man erkannte, dass die Astrologie sich in einem Grenzbereich bewegt.»
«Moment mal. Es gibt an verschiedenen Universitäten Ansätze, die Astrologie wieder aufzunehmen. Seit den Achtzigerjahren spricht man von einer Neo-Astrologie.»
«Aber greifbar ist sie dennoch nicht. Genauso wenig wie andere Theorien, zum Beispiel die Religion.»
«Schweif jetzt gefälligst nicht ab. Ich behaupte ja nicht, dass man das ganze Leben mit einem Horoskop voraussagen kann. Das wäre auch nicht wünschenswert. Vielmehr sind Deutungen möglich.»
«Ein Horoskop ist aber doch nichts anderes als eine Vorschau auf die Zukunft. Und daran glaubst du offensichtlich.»
«Bedingt.»
«Auf jeden Fall schaust du dir immer die Horoskope in den Illustrierten an, die auf meinem Tisch liegen.»
«Aber nur zum Spass. Die sind sehr allgemein gehalten. Ich rede von der ernsthaften Auseinandersetzung mit den Lebensdaten. Geburtshoroskope sind etwas anderes als Zeitungshoroskope.»
«So schlecht sind die gar nicht. Es trifft immer wieder das eine oder andere zu.»
«Weil sie so allgemein gehalten sind, dass du problemlos etwas Geeignetes für dich herauslesen kannst.»
«Und in eurem Geheimbund beschäftigt ihr euch natürlich nicht mit Allgemeinplätzen. Klar, das ist unter eurer Würde.»
«Tja, wenn du wüsstest, was wir an diesen Abenden alles machen … Nur leider wirst du es nie erfahren.»
«Das ist wohl besser so. Aber überzeugt hast du mich mit deiner Argumentation trotzdem nicht, ich sehe nach wie vor Parallelen.»
«Es gibt einen entscheidenden Unterschied, der für die Astrologie und gegen Arians Hellseherei spricht.»
«Da bin ich jetzt aber gespannt.»
«Die Astrologie gibt dir eine Lebenslinie vor, sagt, dass der Mensch aufgrund des Einflusses der Sternenkonstellation bei seiner Geburt geprägt wird. Wohlverstanden, geprägt. Mehr nicht.»
«Und?»
«Geprägt heisst, es werden gewisse persönliche Merkmale aufgezeigt. Welche Talente du bei dir fördern solltest, wo deine Schwächen und deine Stärken liegen könnten. Und darin liegt der Unterschied zu deinem Arian. Das Horoskop soll dir einen Anstoss geben. Was du daraus machst, ist ganz allein dir überlassen. Natürlich spielen verschiedenste Faktoren im Leben eines jeden Menschen eine Rolle, wichtig sind ja auch die genetische Veranlagung, das soziale und das kulturelle Umfeld. Dein Arian hingegen setzt sich hin und spielt den allwissenden Gott. Und das ist für labile Menschen gefährlich. Astrologen beraten, lassen dir aber die Entscheidung offen. Arian hingegen ist für seine Anhänger der Messias. Sie folgen ihm blindlings ins Verderben, wie Lemminge.»
«Der Vergleich hinkt. Deine Astrologen waren auch nicht immer nur Berater.»
«Konkret?»
«Karl der Grosse oder Karl der Kühne oder einer dieser Karls und vor allem Wallenstein, bei dem bin ich mir sicher, richteten ihre Feldzüge und Schlachten nach ihren Astrologen aus.»
«Aber die Entscheidung trafen sie immer selbst.»
«Hm. Ich sehe, so kommen wir nicht weiter. Nur noch eines: Du darfst nicht vergessen, dass die ersten Astrologen ausgelacht, gefürchtet und gar als Hexer verbrannt wurden.»
«Das mag durchaus sein. Und was soll das nun wieder beweisen?»
«Jetzt ist die Astrologie arriviert, eine – sagen wir – Pseudowissenschaft. Heute werden die Nostramos verspottet, verachtet und verjagt. Wer sagt uns denn, dass Arian nicht der Beginn einer neuen Wissenschaft eingeläutet hat? Wie vor Jahrtausenden der erste Astrologe?»
Nadine setzte sich wortlos hinters Steuer und fuhr wie eine Irre los. Ferrari nahm es gelassen, ein äusserst zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, das sich noch verstärkte, als Nadine mit sechzig Sachen quietschend um eine Ecke bog.
«Daran müssen wir arbeiten, Nadine», unterbrach er die Stille.
«Woran?»
«An deinen Hassgefühlen. Du kannst dich doch daran erinnern, was Alura sagte. Der Hass zerfrisst dich.»
Nadine gab Vollgas. Ferrari wurde in den Recarositz gedrückt und japste nach Luft. Das Lächeln war verschwunden.
5. Kapitel
Ferrari klopfte mit seinem Kugelschreiber auf die Akte Nostramo. Minutenlang. Dann notierte er sich einige
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