Das Auge des Sehers (German Edition)
Neues. Arian Nostramo lag höchstens eine halbe Stunde tot vor seiner Garage, bevor seine Leiche von Anna von Grävenitz gefunden worden war. Die Kugel stammte aus einer Pistole mit dem Kaliber sechsunddreissig. Strub hatte in der Akte vermerkt, dass seine Nachfrage bei der Ballistik nichts ergeben hatte. In keinem der ungelösten Fälle sei jemand mit einem Projektil des gleichen Kalibers erschossen worden. Obwohl Ferrari auf Strub sauer war, musste er anerkennen, dass der Gerichtsmediziner professionell mitdachte.
Den Rest des Tages verbrachten der Kommissär und seine Kollegin mit weiteren Recherchen. Nadine druckte stapelweise Informationen aus dem Internet aus, die Ferrari richtiggehend verschlang. Das ist höchst interessant. Viel informativer als jede Fernsehsendung. Ich werde mich in Zukunft mehr mit dem Internet auseinandersetzen, beschloss der Kommissär.
«Na, zufrieden?»
«Mehr als zufrieden.»
«Das ist ein richtiger kleiner Konzern, diese Nostramo-Sekte.»
«Sag nicht immer Sekte. Es ist eine Gemeinschaft.»
«Blödsinn. Eine Sekte in Reinkultur. Die Fernsehsendung ist nur das Flaggschiff. Dahinter verbergen sich ganz andere Dinge. Beratungen rund um die Uhr, Devotionalien jeglicher Art. Vor allem das Auge ist omnipräsent. Das hängt sogar bei Leuten, die ich kenne. Sicher auch bei dir.»
«Ich muss dich leider enttäuschen. Es hängt zwar ein Souvenir aus Malta, auch ein Auge, aber das hat nichts mit dem Nostramo-Auge zu tun.»
«Wenn wir tiefer graben, kommen sicher noch ganz andere Dinge zum Vorschein.»
«Grab nur. Du wirst sehen, die sind vollkommen sauber.»
«Du bist ein hoffnungsloser Fall, Francesco. Wach endlich auf. Dein Messias war ein ganz gewiefter Gauner, der die Leute über den Tisch zog. Nicht mehr und nicht weniger.»
«Hm!»
Der Tod des Gurus war inzwischen das Thema Nummer eins in den elektronischen Medien. Sämtliche Nachrichtensprecher und alle Onlinezeitungen überboten sich mit Spekulationen. Ferrari stellte eine Hitliste mit den meistgenannten Gründen zusammen. Rache und Neid standen an erster Stelle, gefolgt von verschmähter Liebe. Weit abgeschlagen folgte ein Raubmord oder die Tat eines Wahnsinnigen. Als erstes Printmedium berichtete der «Blick am Abend», zumal der Mord nach Redaktionsschluss der Tageszeitungen geschehen war.
«Puh! Genug für heute, Nadine. Ich bins nicht mehr gewohnt, einen ganzen Nachmittag am Schreibtisch zu verbringen.» Ferrari erhob sich stöhnend. «Jetzt sind wir zwar schlauer, was Arians Umfeld anbelangt, aber wirklich weiter bringt uns das nicht.»
«Das finde ich nicht. Immerhin liegt die Vermutung nahe, dass die Nostramos mit ihrer GmbH wahrscheinlich viel Kohle verdienen. Geld ist schon immer ein beliebtes Mordmotiv gewesen. Vielleicht wollte Adrian aufhören. Wer weiss.»
«Wie du selbst sagst, Vermutung, Nadine. Es ist kurz vor sechs. Wir hören für heute auf.»
«Schon Feierabend? Da stimmt doch was nicht.»
«Ich habe mich gestern Abend leicht erkältet. Ein Kratzen im Hals und die Nase läuft.»
«Du Armer!»
«Tja, ich bin halt nicht mehr der Jüngste.»
«Sagt der Mann, der mit seinem Alter kokettiert und der nicht einmal seinen fünfzigsten Geburtstag feiern wollte. Ein absoluter Skandal. Mann muss zu seinem Alter stehen und die Feste feiern, wie sie fallen.»
«Ja, ja. Das habe ich in den vergangenen drei Monaten oft gehört … Ich habe kein Problem mit dem Alter, ich mag nur keine Feste, schon gar nicht die eigenen … Du hast sicher wieder ein Date heute Abend.»
«Das ich dir nicht auf die Nase binden werde.»
«War zu vermuten. Ich bin dafür, dass wir uns noch bei diesem Notar, wie heisst er noch …»
«Arthur Schwegler.»
«… dass wir uns bei ihm für morgen anmelden und uns danach mit Josef Mangold unterhalten.»
«Gut, ich mach noch einen Termin ab und dann gehe ich auch. Gute Besserung, Chef.»
Ferrari spazierte durch die menschenleere Steinentorstrasse zum Barfüsserplatz, wo er zehn endlos lange Minuten auf den Dreier wartete. Er stieg in den hinteren Wagen des Tramzuges und fluchte leise vor sich hin. Auf seinem Platz, dem vordersten rechts, sass ein junger Mann. Dies, obwohl praktisch das ganze Tram leer war. Mürrisch setzte sich der Kommissär in Sichtweite ans Fenster, schräg hinter seinem angestammten Sitzplatz. Als der junge Mann am Aeschenplatz im Takt irgendeines Songs ausstieg, schnellte Ferrari hoch und eroberte seinen Sitz, bevor weitere Fahrgäste einsteigen konnten. Den Rest
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